Magazin Beitrag
Im Namen der Demokratie
Es ist schon eine bemerkenswerte Sache: Da stehen plötzlich einige 10.000 Menschen auf und sagen: Jetzt reichts! Sie campieren auf öffentlichen Plätzen und demonstrieren in Dutzenden von Städten. Dass das gerade in Spanien passiert, ist natürlich kein Zufall. Denn hier dauert die Wirtschaftskrise nicht nur länger als in Nordeuropa, hier sind die Folgen auch für viele sehr unmittelbar zu spüren: 45 Prozent Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen sprechen eine klare Sprache. Wie ist diese Bewegung einzuschätzen? Ein Versuch.
Die Empörung der „Bewegung 15. Mai“ richtet sich zunächst einmal gegen die eigene Regierung. Denn Ministerpräsident Zapatero fährt ein massives Sparprogramm, um zu verhindern, dass das Land von auswärtigen Hilfskrediten und damit auch einhergehender Einflussnahme abhängig wird. Griechenland und die portugiesischen Nachbarn sind da abschreckenden Beispiele. Unter anderem sieht das Programm Lohnkürzungen bei Staatsbediensteten, Streichungen im Sozialbereich und bei den Renten vor. Allerdings scheinen die beschlossenen Maßnahmen bisher kaum zu greifen, die Wirtschaft kommt kaum in Tritt. Das wird sich vermutlich auch nicht nachhaltig ändern lassen ohne eine Kehrtwende der europäischen Wirtschaftspolitik. Hier ist vor allem Deutschland in der Pflicht. Denn die Schieflage der Finanzen und am Arbeitsmarkt geht wesentlich auf die Ungleichgewichte im innereuropäischen Handel zurück. Nicht von Ungefähr gab es bei den Protesten auch Stimmen, die sich kritisch zu Angela Merkel äußerten. Die hat mit ihren platten – und unzutreffenden – Statements über angeblich faule Südeuropäer das Klima jedenfalls zusätzlich vergiftet.
Gerade Jugendliche und Studenten, ganz offensichtlich die Basis der Bewegung, leiden schon seit Jahren unter schlechten Berufsaussichten, die Arbeitslosigkeit ist traditionell die höchste in der ganzen Europäischen Union. Und wenn sie einen Job finden, ist der meist befristet oder schlecht bezahlt. Aber auch andere soziale Gruppen leiden unter der Misere. Endet der Bezug des Arbeitslosengeldes, erhält man noch für sechs Monate 400 Euro – und danach überhaupt nichts mehr. Man kann sich vorstellen, was das für die 1,4 Millionen Familien im Land bedeutet, von denen kein einziges Mitglied mehr eine Arbeit hat. Schon jetzt ist etwa eine Million Menschen komplett aus dem sozialen Netz gefallen. Gleichzeitig werden die Milliardenhilfen für Banken als alternativlos deklariert, was auch die Wut auf »Banker« erklärt.
Nicht nur in Madrid um die Puerta del Sol, auch in Dutzenden weiteren Städten haben sich die Protestler versammelt. Erste Ansätze zu festeren Strukturen sind zu erkennen: Kommissionen arbeiten Konzepte aus, wie es weitergehen soll, Versammlungen stimmen ganz basisdemokratisch darüber ab. Begleitet wird das alles von zahlreichen kreativen Aktionen wie Konzerten, Umbenennungen von Straßen und Plätzen oder Menschenketten. Auf diese Weise soll die Bewegung gefestigt und verbreitert werden. Nicht zuletzt kümmert man sich auch um eine Koordination der einzelnen lokalen Gruppen. Eine wichtige Rolle spielte dabei von Anfang an auch das Internet – insbesondere Facebook und Twitter. Anders ist die explosionsartige Ausbreitung auch kaum zu erklären.
Es liegt natürlich auf der Hand, Parallelen zu den Ereignissen in der arabischen Welt zu ziehen: Die informelle Organisation über soziale Netzwerke und Mund-zu-Mund-Propaganda, die schnelle Ausbreitung, der völlig unerwartete Beginn, das Campieren auf zentralen Plätzen. In der äußeren Erscheinung sind die Ähnlichkeiten geradezu frappierend. Dennoch sollte man vorsichtig sein, beides vorschnell gleichzusetzen. Denn die sozialen Bedingungen sind in den arabischen Ländern ganz andere, die Notlage sehr viel dramatischer. Und das politische System ist wohl kaum mit europäischen Maßstäben vergleichbar. Entwicklungen wie in Bahrain, Syrien oder Libyen sind hier völlig undenkbar, das sollte man nicht vergessen. Immerhin wurden die Demonstrationen gerade offiziell für illegal erklärt. Denn in Spanien darf einen Tag vor Wahlen nicht demonstriert werden. Aber die Regierung kündigte umgehend an, trotzdem nicht dagegen vorgehen zu wollen. Das mag wahltaktischen Erwägungen geschuldet sein, denn heute finden Regional- und Kommunalwahlen statt. Es spricht aber auch zugleich für einen anderen Umgang mit Opposition.
Aber nicht nur die Regierung, die ganze etablierte politische Klasse steht im Fokus der Bewegung. Das spanische Wahlsystem bevorzugt schon lange die beiden großen Parteien und regionale Gruppen wie in Katalonien. So wechseln sich die konservative PP und die sozialdemokratische PSOE traditionell als bestimmende Kraft ab, andere Parteien haben nur wenig Macht, auch wenn sie wie aktuell an der Regierung beteiligt sind. Hinzu kommt, dass die großen Medien eng mit einer der beiden Parteien verbunden sind und die staatlichen Sender der jeweils amtierenden Regierung zu willen sind. Die landesweit agierende Izquierda Unida aber erhält regelmäßig weniger Sitze im Parlament als sie Stimmen erhält. Doch der Unmut richtet sich pauschal gegen „die Politiker“, welche korrupt seien und nur ihre eigene Bereicherung im Sinn hätten. Gleiches gelte für „die Parteien“. Dementsprechend ist auch ein Mehr an politischer Teilhabe eines der wichtigsten Anliegen der Protestler.
Damit kommen wir auch schon zum Kern der Sache: Vieles an dieser Bewegung wirkt, der anscheinend gut durchdachten Organisation zum Trotz, wenig reflektiert. Natürlich ist es sinnvoll und notwendig, sich in einer Notlage zur Wehr zu setzen. Oder sich gegen das Establishment zu stellen, wenn man erkennt, dass die eigenen Interessen dort nicht mehr vertreten werden. Aber muss das im Umkehrschluss bedeuten, gleich in platten Populismus abzugleiten? Kann man nur dann eine signifikante Anzahl von Menschen mobilisieren, wenn man auf den kleinsten gemeinsamen Nenner setzt?
Es bleibt also die spannende Frage, ob sich aus der eher emotional getragenen Empörung tatsächlich so etwas wie eine politische Bewegung entwickeln wird. Das ist durchaus denkbar – und wünschenswert wäre es allemal, nicht nur in Spanien. Allerdings hat die Bewegung in Deutschland offenbar bis jetzt noch kaum Fuß gefasst, erste Demonstrationen blieben eher kläglich. In Portugal oder Italien könnte sie aber sehr viel eher wirksam werden – und in Griechenland gab es ja auch schon in der Vergangenheit heftige Proteste. Mittelfristig ist es notwendig, ein stimmiges Programm zu entwickeln, das über populistische Allgemeinplätze hinausgeht: „Einige von uns bezeichnen sich als aufklärerisch, andere als konservativ. Manche von uns sind gläubig, andere wiederum nicht. Einige von uns folgen klar definierten Ideologien, manche unter uns sind unpolitisch, aber wir sind alle besorgt und wütend angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektive, die sich uns um uns herum präsentiert: die Korruption unter Politikern, Geschäftsleuten und Bankern macht uns hilf- als auch sprachlos.“ Das ist zweifellos ein Anfangspunkt. Mehr aber auch nicht. Sicher, eine Bewegung, die gerade erst entsteht, die vielleicht auch selbst von ihrer Dynamik überrascht wurde, kann wohl erst einmal nicht mehr sein. Sie sollte es jedoch werden, wenn sie wirklich Einfluss nehmen will auf politische Entscheidungen. Wenn sie mehr sein will als ein kurzes Strohfeuer der Enttäuschten und Perspektivlosen.
Kommentare
„kritischer“ Journalismus
Sorry, aber wenn das „kritischer“ Journalismus sein soll, dann gute Nacht.
Wie und warum die Bewegung so heißt, wird nicht gesagt: Democracia Real Ya, also Echte Demokratie JETZT!
Und es gibt mehr Parallelen zu Nordafrika als der Autor zu behaupten wagt: Über 50 hochrangige Politiker sind in den Korruptionsskandal verwickelt – aus beiden Parteien. In Spanien herrscht nahezu ein Zwei-Parteien-System: PPSOE wechseln sich ab, eig. sind sie faktisch eins. Undemokratischer geht’s nicht. Man hat die Wahl zwischen Mist und Scheiße, wen man wählt, ist egal.
Sie wollen echte demokratische Verhältnisse und ein Ende dieser Wirtschaftsordnung, die nur denen nutzt, die sie beherrschen: Und das ist nicht das Volk.
Guten Morgen
Nicht alles was hinkt ist ein Vergleich!
Natürlich kann man die poltische Bewegung in Spanien mit den Aufständen, Revolten und Revolutionen i.d. sog. arabischen Welt vergleichen. In einem solchen Vergleich stellen sich dann einige Fragen:
Der Begriff der Kritik ergibt sich aus dem Anspruch des Abwägens und Analysierens unterschiedlicher Argumente. I.d.S. würde ich bei den genannten 5 Punkten sehr große Unterschiede finden.
Zum politischen System der Demokratie, gleich wie korrupt sie sein mag, gehört auch Demonstrations- und Meinungsfreiheit. Ich denke nicht, daß diese in Spanien nicht vorhanden sind – insofern reagiert die Regierung auch nicht mit dem Niederknüppeln der Demonstranten: Sie wird eher versuchen sie zu integrieren und zu marginalisieren. Ob ihr daß gelingt oder nicht, ist für den Erfolg von Bedeutung. Auch gehört Juan Carlos und seiner Clique nicht die Mehrheit der Unternehmen des Landes. Es handelt sich in Spanien nicht um eine Art frühkapitalistischen Clan-Feudalismus mit autoritären Strukturen wie in Tunesien, sondern um eine bürgerliche Demokratie.
Auch wird in Spanien nicht um »Würde und Brot« gekämpft mit einer Verzweifelung bis zur Selbstverbrennung, sondern um eine andere Lastenverteilung der Weltwirtschaftskrise.
Kritik der kritischen Kritik
Nun ja, möglicherweise habe ich mich unverständlich ausgedrückt, aber alle von Ihnen genannten Punkte kommen doch in dem Artikel vor: Sowohl die Korruption als auch das wenig demokratische Wahl- bzw. Parteiensystem. Genauso wie die wirtschaftliche Lage und die damit verbundenen Probleme. Und zu den Zielen habe ich geschrieben: »Dementsprechend ist auch ein Mehr an politischer Teilhabe eines der wichtigsten Anliegen der Protestler.«
Unter kritischem Journalismus kann man ja vieles verstehen, jeder wird da seine eigene Definition haben. Aber für mich gehört eben auch dazu, sich nicht vom Enthusiasmus mitreißen zu lassen. Ich denke, der Text bringt schon zum Ausdruck, dass ich dieser Bewegung positiv gegenüberstehe. Aber ich sehe eben auch ihre Schwächen und Unausgereiftheiten. Kritik ist hier also beides: Kritik an gesellschaftlichen Zuständen, aber auch kritische, beobachtende Distanz (statt einer direkten Parteinahme).