Magazin Beitrag

Die jüngste Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg

Ein Überblick

Zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs ist eine wahre Flut an historischen Publikationen erschienen. Darin finden sich zahlreiche neue Erkenntnisse im Detail ebenso wie veränderte Perspektiven auf den Gesamtkonflikt. Zumindest in Deutschland ist die meistdiskutierte Frage in den Feuilletons die nach der Verantwortung für den Kriegsausbruch. Dennoch lohnt es sich, den Blick auch auf einen weit weniger beachteten Aspekt des Krieges zu richten: auf den Protest und Widerstand gegen den Krieg, der häufig von unten kam und von sozialen Bewegungen getragen wurde.

Der Erste Weltkrieg als Betriebsunfall der Geschichte?

Im Gefolge des aufsehenerregenden Bestsellers «Die Schlafwandler» von Christopher Clark über die diplomatische Vorgeschichte des Krieges setzt sich gerade eine Sichtweise durch, die gleichermaßen antiquiert wie gegenwartsorientiert und in mancher Hinsicht auch sehr deutsch ist.[1] Obwohl Clark Lehrstuhlinhaber in Cambridge ist und sein Band zunächst auf Englisch erschien, wurde er doch in Deutschland mit weitaus mehr Aufmerksamkeit bedacht als in Großbritannien. Generell ist es bemerkenswert, wie länderspezifisch noch immer über diesen internationalen Konflikt diskutiert wird. In Deutschland steht seit dem Friedensvertrag von Versailles die Kriegsschuldfrage im Fokus. Dagegen wird in Frankreich  darüber gestritten, wodurch es gelang, in diesem Krieg so lange durchzuhalten: durch Zwang oder eine gemeinsame nationale Kriegskultur? In Großbritannien wiederum hat sich – sicher nicht zufällig angesichts der dort wachsenden Europa-Skepsis – seit einigen Jahren eine Auseinandersetzung darüber entwickelt, ob es richtig und zielführend war, dass sich das Land überhaupt am Krieg der Kontinentalmächte beteiligt hat.[2]

Antiquiert ist die Kriegsschulddebatte, weil sie wie weiland im 19. Jahrhundert den Fokus der Geschichtsschreibung erneut fast ausschließlich auf die «hohe Politik», die Diplomatie und das Denken eines kleinen Kreises von Entscheidungsträgern richtet. Damit einher geht fast zwangsläufig eine Personalisierung der Historie: Die Gründe für Entscheidungen liegen dann vor allem in individuellen Charakterzügen und Handlungen, aber kaum noch in sozioökonomischen Strukturen und Interessenlagen. Clark selbst betont, ihm gehe es um das Wie, also die einzelnen Handlungsabläufe der Julikrise. Das Warum des Kriegsausbruchs interessiere ihn dagegen allenfalls in zweiter Linie.[3] Und mehr noch, die vorgeblich handlungsleitenden Ängste aller Regierungen, die beispielsweise in dem ebenfalls sehr gut verkauften und breit diskutierten Band Herfried Münklers stark betont werden, führen zu der Annahme, Irrationalität habe dem Kriegsausbruch zugrunde gelegen.[4] Das unterscheidet sich im Ergebnis dann nur noch geringfügig von Clarks schon im Titel enthaltener These, die führenden Köpfe Europas im Jahr 1914 seien Schlafwandler gewesen.

Wer aber von Ängsten getrieben oder gar schlafwandelnd in einen Krieg «hineinschlittert» – so schon der britische Premier David Lloyd George kurz nach dem Krieg –, der mag als Politiker vielleicht unfähig sein, aber eben nicht wirklich verantwortlich. Und wenn das für alle maßgeblichen Eliten in allen kriegführenden Ländern gilt, dann ist am Ende auch niemand schuldig geworden. Ein Weltkrieg aus Versehen sozusagen, ein Betriebsunfall der Geschichte. Es muss natürlich betont werden, dass es auch aktuelle Publikationen zur Julikrise gibt, die hier andere Schwerpunkte setzen. Annika Mombauer und Gerd Krumeich beispielsweise lasten die Hauptverantwortung dem Deutschen Kaiserreich an und folgen damit in Teilen der Interpretation Fritz Fischers aus den 1960er Jahren.[5] Dieser war in seinen späteren Veröffentlichungen noch einen Schritt weiter gegangen und hatte die These aufgestellt, Deutschlands Führung habe über Jahre hinweg systematisch auf den Krieg hingearbeitet.[6]

Es ist sehr bezeichnend, dass in vielen neuen Studien zum Weltkrieg langfristige innenpolitische, soziale und wirtschaftliche Spannungen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Genauso wenig wie der Widerstand gegen den Krieg vor und nach seinem Ausbruch. Bei Münkler beispielsweise wird der große Massenstreik im April 1917 in Deutschland mit immerhin rund 300.000 Beteiligten lediglich in einem Halbsatz abgehandelt. Die Fokussierung auf die «hohe Politik» erfährt also ihre Entsprechung in der Ignoranz gegenüber tiefer liegenden gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Bewegungen von unten.

Dieser methodische Rückschritt in die Zeiten des Historismus wäre allein schon eine bemerkenswerte Tatsache. Seine eigentliche Brisanz erhält er aber durch die Verknüpfung mit den auf die Gegenwart hin orientierten Lehren, die aus einer solchen Geschichtsbetrachtung gezogen werden. Denn das richtige Gegenmittel gegen schlafwandelnde Entscheidungsträger sind nicht etwa pazifistische Massenbewegungen. Diese interessieren letztlich gar nicht. Vielmehr sind es eben rationale, wache Entscheidungsträger. Bei Münkler liest sich das dann so, dass mit mehr «Weitsicht und Urteilskraft» des politischen Spitzenpersonals der Krieg hätte vermieden werden können.[7] Und weiter, dass die Julikrise 1914 im Krieg mündete und außerdem nach dem Scheitern der Anfangsoffensiven der Krieg nicht bald auf dem Verhandlungsweg beendet wurde, sei in erheblichem Maße auf den «Einfluss der Straße» zurückzuführen.

Also drängten die Massen zu einem Waffengang, den die Eliten eigentlich gar nicht wollten? Dieses Argument ist ebenso überraschend wie falsch. Es lohnt sich, hier einen genaueren Blick auf Protest und Widerstand im Ersten Weltkrieg zu werfen. Denn auch wenn dieser Aspekt aktuell in der öffentlichen Debatte praktisch keine Rolle spielt, liegt doch eine ganze Reihe von spannenden neuen Untersuchungen dazu vor. Es versteht sich dabei von selbst, dass hier keine umfassende Darstellung aller entsprechenden Forschungen erfolgen kann. Vielmehr soll den Lesern [SL1] nur eine erste Orientierung zu diesem Thema geboten werden.

Mehr als ein Randphänomen: Der Wunsch nach Frieden

In seinem Überblickswerk zum Ersten Weltkrieg schreibt Oliver Janz, die allgemeine Kriegsbegeisterung im Sommer 1914 sei «einer der großen Geschichtsmythen des 20. Jahrhunderts».[8] In der Tat prägten die wenigen, aber propagandistisch geschickt genutzten Fotos von patriotischen Kundgebungen und blumengeschmückten Soldaten vor Bahnwaggons mit Aufschriften wie «Auf nach Paris!» lange unser Bild vom Kriegsausbruch. Die Realität sah aber anders aus, und das überall in Europa. Vor allem unter der Landbevölkerung, die vor der Ernte stand, und in den Arbeitervierteln der Großstädte herrschten Beklommenheit und offene Abneigung vor. Während der Julikrise, also noch vor den Kriegserklärungen, fanden in fast allen deutschen Städten Versammlungen für den Frieden statt, wie Jörn Wegner zeigen kann.[9] Das geschah teils in überfüllten Sälen, teils aber auch illegal auf offener Straße. Insgesamt dürften etwa eine Million Menschen daran beteiligt gewesen sein. Ganz Ähnliches geschah in Wien, auch hier gab es ab 1912 große Versammlungen gegen die Kriegsgefahr. Der Historiker Wolfgang Maderthaner spricht in diesem Zusammenhang von einem regelrechten «Veranstaltungsmarathon», der bis Ende Juli 1914 anhielt.[10] Auch in Frankreich kam es zu Massenkundgebungen gegen den drohenden Krieg. Die treibende Kraft hinter diesen Aktionen war die organisierte Arbeiterbewegung, die seit Jahren und international vernetzt für eine friedliche Außenpolitik und Abrüstung warb.

Das hatte durchaus Einfluss auf das Kalkül der Eliten, zumal noch radikalere Reaktionen der Arbeiterbewegung auf die zugespitzte internationale Lage nicht ausgeschlossen werden konnten.[11] Immerhin hatte es in der Zweiten Internationale auch – freilich nicht konsensfähige – Forderungen gegeben, einen drohenden Krieg mit Massenstreiks zu beantworten. Vor allem über diesen Umweg, als Faktor, den die Diplomaten einbeziehen mussten, finden die Antikriegsaktivitäten der Arbeiterbewegung Eingang in die aktuelle Literatur. So herrscht weitgehend Konsens unter Historikern, dass die deutsche Reichsleitung ebenso geschickt wie erfolgreich darum bemüht war, Russland als Aggressor hinzustellen. Das tat sie vor allem, um dann mit Verweis auf den Verteidigungskrieg gegen die zaristische Autokratie die SPD in den Burgfrieden einbinden zu können.[12] Weniger überzeugend ist dagegen die Behauptung von Jörg Friedrich, in Frankreich habe es keinen umfassenden Widerstand gegeben, weil der Sozialistenführer Jean Jaurès unmittelbar vor Kriegsbeginn ermordet wurde.[13] Das mag ein Grund gewesen sein, kann aber nicht allein die Kehrtwende der Französischen Sektion der Arbeiter-Internationale (SFIO) erklären, die dann ähnlich wie fast alle ihre Schwesterparteien aus der Zweiten Internationale die eigene Regierung unterstützte.[14] Es war vielmehr die schrittweise und oft hinter radikalen Phrasen versteckte Integration der Sozialisten in die bestehende Ordnung, die sich hier spektakulär auswirkte. Nicht zuletzt diesem nationalen Kurs der linken Parteien dürfte es zu verdanken sein, dass die eigentliche Mobilmachung der Millionenheere – und das bedeutete eben auch die Einziehung der Arbeiter – letztlich weitgehend reibungslos verlief.[15] Leonhard schreibt aber dennoch und ganz im Gegensatz zu Münkler: «Von einem Drängen der Bevölkerung oder gar einer Bewegung für den Krieg von unten, auf die Politiker und Militärs in ihren Entscheidungen hätten Rücksicht nehmen müssen, konnte keine Rede sein.»[16]

Der Burgfrieden bekommt Risse

Die konsequenten Kriegsgegner blieben im Moment der Entscheidung trotzdem in der Minderheit und taten sich schwer, nach außen hin ihre Position zu vertreten. Das galt beispielsweise für die oppositionellen Mitglieder der SPD-Reichstagsfraktion. Diese Schockstarre hielt jedoch nicht lange an. Schon unmittelbar nach Kriegsbeginn formierte sich eine Opposition, wie Ottokar Luban anhand der Berliner SPD nachweist.[17] Ihre ersten Schritte fanden allerdings in kleinen Zirkeln wie Lesekreisen und Jugendgruppen statt, von einer Breitenwirkung waren sie noch weit entfernt. Neue Netzwerke aber entstanden und wurden erweitert, auch unter den erschwerten Bedingungen von Einberufungen, Zensur und Belagerungszustand.

Marco Swiniartzki weist auf ähnliche Prozesse im betrieblichen und gewerkschaftlichen Rahmen hin.[18] Schon vor dem Krieg hatten in der Chemnitzer Metallindustrie die gewerkschaftlichen Vertrauensleute als Stützen des Deutschen Metallarbeiter-Verbands (DMV) eine entscheidende Rolle gespielt. Im Verlauf des Kriegs gelang es der Opposition, gerade in diesem sensiblen Bereich Fuß zu fassen, denn die Gewerkschaftsspitze hatte sich mit ihrer Burgfriedenspolitik wenig Freunde gemacht und parallel waren viele alte Vertrauensleute zum Militär eingezogen worden. Dieses Vakuum galt es nun zu füllen. In Bremen, mit seiner starken Vorkriegstradition der Linksradikalen, entkoppelte sich der Protest auf den großen Werften dagegen von den gewerkschaftlichen Apparaten. Wie Antonio Farina zeigt, mischten sich in den Streikbewegungen konkrete wirtschaftliche Forderungen, etwa nach besseren Löhnen und mehr Lebensmitteln, mit politischen Anliegen wie staatlichen Reformen und einem schnellen Frieden.[19]

Diese Verbindung von konkret-sozialen mit allgemein-politischen Forderungen zieht sich durch nahezu alle Protestbewegungen des Krieges in allen beteiligten Ländern. Tendenziell nahm die politische Dimension an Gewicht und Radikalität zu, während in der ersten Kriegsphase bis etwa 1916 soziale Anliegen Vorrang hatten. Je länger der Krieg dauerte, desto schwieriger war die Versorgungslage, besonders bei den Mittelmächten und Russland. Großbritannien und Frankreich konnten sich dagegen auf die Ressourcen ihrer Kolonien, auf die Hilfe der USA und generell auf den Weltmarkt stützen. Mit der Versorgungskrise einher ging ein enormer Prestigeverlust der staatlichen Behörden, wie schon vor Jahrzehnten Jürgen Kocka eindrucksvoll gezeigt hat.[20] In aktuellen Studien bestätigt sich diese grundlegende Erkenntnis.

Das gilt auch für eine Arbeitergruppe, die oft vergessen wird, obwohl sie für den Grabenkrieg praktisch unverzichtbar war: jene Zivilisten, die im Hinterland der Front oder direkt unter feindlichem Beschuss die aufwendigen Nachschublinien und Grabensysteme bauten und instand hielten.[21] Allein für die italienische Armee waren etwa 650.000 solcher Arbeitskräfte im Einsatz. Trotz der harten und gefährlichen Arbeit erhielten sie oft ihre Löhne zu spät oder nur teilweise ausbezahlt, wurden von den Offizieren respektlos behandelt und unterlagen einer strikten Disziplin. Vielfach übten sie daher Formen des passiven Widerstands. Sie arbeiteten bewusst langsam, täuschten Krankheiten vor, zerstörten ihre Werkzeuge oder entzogen sich durch Flucht. Im weiteren Verlauf griffen sie aber auch zum offenen Streik als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele und forderten einen baldigen Frieden.

In den letzten Jahren haben auch spontane Proteste und solche ohne direkte organisatorische Anbindung größere Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden. Dazu zählen ganz zentral die Lebensmittelunruhen, die meist von Frauen und Jugendlichen getragen wurden. Umfangreiche und quellennahe Studien liegen speziell zu den beiden Hauptstädten der Mittelmächte, Berlin und Wien, vor.[22] Solche Bewegungen sind einerseits interessant als Gradmesser der Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Wichtig ist aber ebenso, gegen was und an welche Adressaten sich die Proteste richteten. Aus spontanen Zusammenkünften oder aus den langen Warteschlangen heraus wurden Plünderungen unternommen, aber oft formierten sich auch Protestzüge zu den lokalen Behörden. Denn deren Korruption und unzureichende Verwaltung des Mangels machte man für die prekäre Lage mitverantwortlich. Auch waren sie greifbarer als beispielsweise Lebensmittelschieber.

Interessant ist dabei nicht zuletzt, dass sich Frauen mit solchen Aktionen einen neuen Platz in der Öffentlichkeit erkämpften, denn traditionell war die Politik im weitesten Sinne eine männliche Domäne. Die Rollenbilder waren schon in den Jahren vor dem Krieg ins Wanken gekommen. Während des Konflikts nahmen Frauen dann noch mehr als bisher männlich konnotierte Arbeiten  auf, etwa in den Rüstungsfabriken. Gerade weil die Frauen durch die Versorgungsengpässe die ihnen zugewiesene Rolle im Haushalt nicht mehr hinreichend wahrnehmen konnten – verstärkt durch ihre erzwungene, zeitintensive öffentliche Präsenz in den Warteschlangen und auf den Märkten –, trugen sie ihre Anliegen nun auf die Straßen. Zwar wurde ihren Aktionen von behördlicher Seite oft schlicht der Charakter des Politischen abgesprochen, aber die Orientierung auf staatliche Akteure allein zeigt schon, dass die Frauen selbst sich als politisch verstanden.[23] Hinzu kamen informelle lokale Netzwerke besonders in den Arbeitervierteln der Städte, die solchen Protesten oftmals erst eine gewisse Breite und damit Durchschlagskraft verleihen konnten, wie Joana Dias Pereira das am Beispiel Portugals gezeigt hat.[24]

Die großen Massenstreiks im Krieg sind in den letzten Jahren mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen thematisiert worden. So liegt zu einer der führenden Persönlichkeiten der Berliner revolutionären Obleute, Richard Müller, eine lesenswerte Biografie vor.[25] Deren Netzwerk war nicht nur federführend an den Streiks der Jahre 1916 bis 1918 beteiligt, sondern darüber hinaus auch an der Vorbereitung der Novemberrevolution.[26] Ein Überblick zu den insgesamt sehr vielfältigen Protestformen und organisatorischen Veränderungen der Berliner Arbeiterbewegung während des Krieges liegt ebenfalls vor.[27] Aber nicht nur in der deutschen Hauptstadt, auch andernorts bewirkte der Krieg einen Wandel im Organisationsgefüge der Arbeiterbewegung. Das wird etwa in einer Quellenedition zur radikalen Linken Österreichs deutlich, die Hans Hautmann zusammengestellt und kommentiert hat.[28]

Die Gegensätze zwischen Befürwortern und Kritikern des Kriegs spalteten nicht nur die beteiligten Nationen, sondern bisweilen auch einzelne Familien. Das zeigt Adam Hochschild mit seiner auf Großbritannien konzentrierten, sehr anschaulich geschriebenen Darstellung.[29] So überwarfen sich beispielsweise die Mitglieder der Suffragetten-Familie Pankhurst. Mutter Emmeline und Tochter Christabel unterstützten den Krieg und erhofften sich davon ein Entgegenkommen der Regierung in der Frage des Frauenwahlrechts. Die zweite Tochter Sylvia dagegen kritisierte den Konflikt aufgrund ihrer sozialistischen Überzeugungen scharf. Bemerkenswert ist auch der Fall des britischen Feldmarschalls John French, Oberkommandierender der britischen Truppen in Frankreich: Seine Schwester Charlotte Despard engagierte sich vehement gegen den Krieg und die Einführung der Wehrpflicht.

In Großbritannien gehört er zum Kernbestand der Erinnerungskultur des Ersten Weltkriegs, in Deutschland ist er vor allem mit dem populär gehaltenen Band von Michael Jürgs einer größeren Leserschaft bekannt geworden: der «Christmas Truce», also der inoffizielle weihnachtliche Waffenstillstand 1914 an der Westfront.[30] Genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln, aber mit Sicherheit hat sich eine ganze Reihe von Einheiten direkt in den vordersten Linien beteiligt, darunter vor allem Deutsche und Briten. Man begegnete sich im Niemandsland zwischen den Gräben, bestattete die Toten, tauschte Geschenke aus und spielte sogar miteinander Fußball. Ganz treffend nennt Jürgs dieses Ereignis den «kleinen Frieden im Großen Krieg» – denn schon nach wenigen Tagen war alles vorbei und sollte sich auch nicht mehr wiederholen. Das lag nicht zuletzt an den argwöhnischen Offizieren, die solche Fraternisierungen mit dem Feind erfolgreich unterbanden.

Der «Christmas Truce» sollte aber nicht mit den großen Meutereien und Desertionen der Jahre 1917 und 1918 verwechselt werden, zu denen es in fast allen Armeen kam.[31] In den meisten Fällen richteten sich die Befehlsverweigerungen gegen verheerende Verluste aufgrund der rücksichtslosen Frontalangriffe und führten neben drastischen Strafen auch zu Verbesserungen für die Truppen im Alltag.[32] Die ausgedehnten Meutereien in der französischen Armee etwa gingen kaum auf politische Motive zurück, da sie sich nicht gegen den Krieg an sich, sondern nur gegen einzelne Auswüchse richteten. In der zaristischen Armee aber führten die fortgesetzten Missstände schließlich zum weitgehenden Zusammenbruch der Front und zu Massendesertionen. Auch das deutsche und das österreichisch-ungarische Heer hatten mit ähnlichen Problemen zu kämpfen, besonders gegen Kriegsende.[33]

In der französischen Forschung wurde und wird vehement über die Frage gestritten, wie es möglich war, Front und Hinterland über viereinhalb Jahre lang weitgehend stabil zu halten.[34] Ein Teil der Historiker verweist dazu auf den starken Nationalismus, die damit verbundenen wirkmächtigen Feindbilder und die Schützengrabengemeinschaft. Diese Aspekte werden unter dem Begriff einer «Kriegskultur» zusammengefasst. Andere Forscher sehen die Disziplinierung in Armee und Gesellschaft und damit einen erzwungenen Gehorsam als wesentlich an. Diese Debatte ist noch keineswegs entschieden; es wäre wünschenswert, sie in einer international vergleichenden Weise anzugehen. Das wurde bislang aber erst ansatzweise versucht, beispielsweise mit einem Sammelband unter dem programmatischen Titel «Durchhalten!».[35] Den einen alles entscheidenden Grund für das lange Ausharren dürfte es ohnehin nicht gegeben haben. Wahrscheinlicher ist, dass ein je nach Land spezifisches Bündel an Faktoren zusammenkam. Beispielsweise dürfte ein belgischer Soldat, der gegen die Besatzer seines Landes kämpfte, eine andere Motivation gehabt haben als der polnische Soldat in russischer Uniform. Auch die Bedingungen an der Heimatfront waren sehr unterschiedlich, wie bereits im Zusammenhang mit der Nahrungsmittelversorgung erwähnt wurde.

Kulturelles Leben im Krieg

Dass den Kulturschaffenden eine besondere Rolle für die Sinnstiftungen und Rechtfertigungen des Krieges zukam, ist gut dokumentiert.[36] Dazu zählen beispielsweise die ideologisch überhöhten «Ideen von 1914», mit denen der Mythos einer nationalen Schicksalsgemeinschaft der Deutschen geschaffen wurde. Sicherlich die Mehrheit und gerade auch die prominentesten unter den Künstlern und Professoren[Weipert2]  unterstützte den Waffengang[Weipert3] [F4] . Einige, wie etwa Franz Marc, bezahlten ihre Haltung mit dem Tod an der Front. Es ist aber festzuhalten, dass viele Künstler und Intellektuelle gegen den Krieg Position bezogen. Die Motive waren dabei sehr unterschiedlich. Manche taten das aus einem bürgerlich geprägten Pazifismus heraus, andere wiederum betonten in anarchistischem Sinn, dass der Krieg die logische Folge der Existenz von Staaten sei. Gerhard Senft hat zu diesem Thema eine ganze Reihe von Dokumenten zusammengestellt.[37]

Eine der besten kulturgeschichtlichen Darstellungen des Ersten Weltkriegs stammt aus der Feder von Ernst Piper.[38] Dabei werden auch die Aktivitäten von Kriegsgegnern innerhalb des Kulturbetriebs gewürdigt. Angesichts der rigiden Zensur in Deutschland und Österreich ist es nicht überraschend, dass sich eine größere Zahl von ihnen im schweizerischen Exil sammelte. Kristallisationspunkte der literarischen Opposition waren die Zeitschriften Die freie Zeitung und die Weißen Blätter. Sie druckten Texte von prominenten Akteuren aus unterschiedlichen politischen Richtungen, hatten aber insgesamt eine klar antimilitaristische Haltung . Auch der französische Kriegskritiker Romain Rolland hielt sich während des Konflikts in der Schweiz auf.

Es ist interessant, wie die literarische Verarbeitung des Krieges nach seinem Ende verlief.[39] Hier tat sich ein weites Feld an Verarbeitungen auf, von positiven Bezugnahmen wie Ernst Jüngers «In Stahlgewittern» bis hin zu den eindeutig antimilitaristischen Texten von Erich Maria Remarque oder Ernst Toller. Alle drei konnten als ehemalige Soldaten auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Der  Literaturbetrieb der Weimarer Republik war allerdings mehrheitlich an einer Romantisierung und Verklärung desr Kriegs interessiert. Remarques Klassiker «Im Westen nichts Neues» dagegen löste nach seiner Verfilmung wüste Proteste der Nationalsozialisten bis hin zu tätlichen Auseinandersetzungen vor den Kinos aus.

Schlussbetrachtung

Schon dieser kurze Überblick hat gezeigt, dass eine größere Zahl von aktuelleren Forschungen zu Widerstand und Protest im Ersten Weltkrieg vorliegt. Darin kommen auch Aspekte in den Blick, die in der Geschichtswissenschaft eher stiefmütterlich behandelt wurden. Denn die Forschung hat sich bei diesem Thema lange auf die etablierten Organisationen wie linke Parteien und Gewerkschaften konzentriert. Mittlerweile wissen wir auch einiges über das Protestverhalten von Frauen und über spontane Aktionen mit eher informellem Hintergrund. Eine wirklich umfassende und international vergleichende Studie zum Thema steht allerdings noch immer aus.

Ein Blick auf die einschlägigen Bestsellerlisten und in die Feuilletons der großen Zeitungen zeigt ganz klar, dass der damalige Protest in der heutigen öffentlichen Wahrnehmung des Konflikts bestenfalls eine Nebenrolle spielt. Stattdessen liegt der Fokus im Gefolge von Clarks «Schlafwandlern» eindeutig auf der Julikrise und damit auf der klassischen Diplomatiegeschichte und hohen Politik. Dabei zeigt sich, dass diese Debatte teilweise eine konservativ-nationalistische Färbung bekommen hat. Einigen Historikern zufolge ist es an der Zeit, gestützt auf eine Neuverteilung der Verantwortung am Ersten Weltkrieg, Deutschland heute eine selbst- und machtbewusstere Rolle zuzuweisen: Ohne «Schuldstolz», dafür aber umso mehr ausgerichtet auf «nationale Interessen».[40] Aus verschiedenen Richtungen wurden diese Interpretation des Ersten Weltkriegs und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen aber auch scharf kritisiert.[41]

Der Erste Weltkrieg hatte  zweifellos enorme Folgen für

das gesamte 20. Jahrhundert. Die Gründung der Sowjetunion und zahlreicher kleinerer Nationalstaaten in Ostmitteleuropa, die Zuspitzung nationaler und sozialer Gegensätze, eine neue, totale Form der Kriegführung, um nur ein paar Punkte herauszugreifen. Es kann deshalb kaum überraschen, dass der Krieg noch immer polarisiert und als Folie für heutige politische Verortungen dient. Das gilt für die Frage nach den Ursachen von Kriegen, das gilt aber auch für die Frage, wie sich der Einzelne zum Thema Krieg und Frieden stellt. Diese Positionierung kann sehr unterschiedlich ausfallen, wie die Vielfalt des Protests, aber auch das Durchhalten und Mitwirken vieler Akteure während der «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts» zeigte. In mancher Hinsicht sagt die Betrachtung der Geschichte wohl mehr über den Betrachter aus als über den Gegenstand. Auch das ist eine mögliche Erkenntnis aus der historischen Forschung zum Ersten Weltkrieg.


[1] Clark, Christopher: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013.

[2] Vgl. Ferguson, Niall: The Pity of War. Explaining World War I, New York 1998. Einen guten und aktuellen Einstieg in diese Debatte bietet der Mitschnitt einer Podiumsdiskussion in London vom 15. April 2014 mit wichtigen Protagonisten wie Max Hastings und Margaret MacMillan, unter: www.intelligencesquared.com/events/britain-first-world-war.

[3] Clark: Schlafwandler, S. 17.

[4] Münkler, Herfried: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2013.

[5] Mombauer, Annika: Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg, München 2014; Krumeich, Gerd: Juli 1914. Eine Bilanz, Paderborn 2014; Fischer, Fritz: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918, Düsseldorf 1961.

[6] Fischer, Fritz: Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914, Düsseldorf 1969.

[7] Zu diesem und dem folgenden Zitat vgl. Münkler: Der Große Krieg, S. 14 bzw. S. 778.

[8] Janz, Oliver: 14. Der Große Krieg. Frankfurt a.M. 2013, S. 179.

[9] Wegner, Jörn: Die Antikriegsproteste der deutschen Arbeiter am Vorabend des Ersten Weltkrieges und ihre Entwaffnung durch die SPD-Führung, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung [JBzG] 2014/II, S. 39–52.

[10] Maderthaner, Wolfgang: Der Kongress fand nicht statt. In: Pfoser, Alfred/Weigl, Andreas (Hrsg.): Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013, S. 46–51, hier S.48.

[11] Vgl. MacMillan, Margaret: The War That Ended Peace. The Road to 1914, New York 2013.

[12] Vgl. Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 114; Clark: Schlafwandler, S. 673; Münkler: Der Große Krieg, S. 229–232.

[13] Friedrich, Jörg: 14/18. Der Weg nach Versailles, Berlin 2014, S. 189.

[14] Vgl. Becker, Jean-Jacques/Krumeich, Gerd: Der Große Krieg. Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg 1914–1918, Essen 2010, S. 79–103.

[15] Vgl. Janz: 14, S. 195.

[16] Leonhard: Büchse , S. 130.

[17] Luban, Ottokar: Der Kampf der Berliner SPD-Basis im ersten Kriegsjahr gegen die Kriegskreditbewilligung, in: JBzG 2014/II, S. 53–65.

[18] Swiniartzki, Marco: Der Beginn der gegenseitigen Entfremdung. Arbeiter und Deutscher Metallarbeiter-Verband im Chemnitzer Maschinenbau 1914 bis 1918, in: JBzG 2014/II, S. 106––123.

[19] Farina, Antonio: Die «unruhige Arbeiterschaft». Rüstungsproduktion und Arbeiterbewegung in einer U-Boot-Werft. Die AG «Weser» im Ersten Weltkrieg, in: JBzG 2014/III, S. 85–106.

[20] Kocka, Jürgen: Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Göttingen 1978.

[21] Vgl. Ermacora, Matteo: Arbeiten vor Gewehrläufen. Protest und Widerstand von Arbeitern im Hinterland der italienischen Front (1915 bis 1918), in: JBzG 2014/III, S. 68–84.

[22] Vgl. Davis, Belinda: Home Fires Burning. Food, Politics and Everyday Life in World War I Berlin, Chapel Hill 2000; Healy, Maureen: Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I, Cambridge 2005.

[23] Vgl. Helfert, Veronika: «Unter Anführung eines 13jährigen Mädchens». Gewalt und Geschlecht in unorganisierten Protestformen in Wien während des Ersten Weltkrieges, in: JBzG 2014/II, S. 66–82.

[24] Pereira, Joana Dias: Produzenten und Konsumenten vereinigt euch! Soziale Unruhen während des Ersten Weltkriegs in Portugal, in: JBzG 2014/III, S. 54–67.

[25] Vgl. Hoffrogge, Ralf: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008.

[26] Vgl. Luban, Ottokar: Die Novemberrevolution 1918 in Berlin. Eine notwendige Revision des bisherigen Geschichtsbildes, in: JBzG 2009/I, S. 53–78.

[27] Vgl. Weipert, Axel: Das Rote Berlin. Eine Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung 1830–1934, Berlin 2013, S. 114–137.

[28] Hautmann, Hans (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg und das Entstehen der revolutionären Linken in Österreich. Eine kommentierte Dokumentation, Wien 2014.

[29] Hochschild, Adam: To End All Wars. A Story of Protest and Patriotism in the First World War, London 2012.

[30] Jürgs, Michael: Der kleine Frieden im Großen Krieg, München 2003.

[31] Vgl. Stevenson, David: With Our Backs to the Wall. Victory and Defeat in 1918, London 2012; Leonhard: Büchse, S. 634–651.

[32] Vgl. Janz: 14, S. 247.

[33] Vgl. Rauchensteiner, Manfried: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien u.a. 2013.

[34] Die widerstreitenden Ansichten werden federführend von zwei Gruppen vertreten. Den Zwang betonen die Historiker des «Collectif de Recherche International et de Débat sur la Guerre 1914–1918», kurz: «CRID 14–18». Die Überzeugung als Hauptgrund propagieren dagegen Forscher mit Nähe zu dem Museum «Historial de la Grande Guerre» in Péronne.

[35] Bauerkämper, Arnd/Julien, Elise (Hrsg.): Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918, Göttingen 2010.

[36] Vgl. Münkler: Der Große Krieg, S. 215–288.

[37] Senft, Gerhard (Hrsg.): Friedenskrieger des Hinterlandes. Der Erste Weltkrieg und der zeitgenössische Antimilitarismus, Wien 2014.

[38] Piper, Ernst: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, Berlin 2013.

[39] Vgl. Koch, Lars: Der Erste Weltkrieg als kulturelle Katharsis und literarisches Ereignis, in: Weber, Niels u.a. (Hrsg.): Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2014, S. 97–141.

[40] Vgl. Neitzel, Sönke u.a.: Der Beginn vieler Schrecken, in: Die Welt, 3.1.2014.

[41] Vgl. Gebhardt, Richard: Das Unschuldslamm, in: Jungle World, 28.5.2014; Winkler, Heinrich August: Und erlöse uns von der Kriegsschuld, in: Die Zeit, 18.8.2014.