Presseschau Wissenschaft

Rohe Bürgerlichkeit

Die soziale Kälte nimmt zu
Rohe Bürgerlichkeit
Bild von hikingartist.com

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer untersucht seit einigen Jahren in einer Langzeitstudie die Einstellungen gegenüber sozial Schwachen und Minderheiten in unserer Gesellschaft. Die Befunde sind besorgniserregend: Unsicherheiten wachsen, Abstiegsängste nehmen deutlich zu. Damit einher gehen Ausgrenzungen und ein nicht zu unterschätzendes Potenzial für rechte Einstellungen. Schuld an dieser Entwicklung ist nach Heitmeyer vor allem die Oberschicht. Deren Denk- und Verhaltensweisen bezeichnet er als »rohe Bürgerlichkeit«. Sie beurteilt Menschen vor allem nach ökonomistischen Kriterien wie Effizienz und Nutzen und liefert so eine Begründung für die Entsolidarisierung:

Der so von oben inszenierte Klassenkampf wird über die rohe Bürgerlichkeit nach unten weitergegeben. Die objektive finanzielle Spaltung zwischen Reich und Arm wird ideologisch durch die Abwertung und Diskriminierung von statusniedrigen Gruppen durch die rohe Bürgerlichkeit getragen. Dafür gibt es empirische Belege.

Weltbild als Konsumprodukt?

Ein ganz anderer Blick

Es ist ein durchaus interessantes Experiment: Indonesische Ethnologiestudenten erforschen deutsche Weltbilder. Begonnen hat alles mit ein paar Klischees, etwa dem, dass Deutsche säkularisiert, logisch und Religiösem wenig aufgeschlossen seien. In Gesprächen und Feldstudien wurde das überprüft, organisiert im Rahmen einer deutsch-indonesischen Forschungspartnerschaft. Gegenstand der Studien waren Esoteriker, Veganer, und – etwas überraschend – auch die grüne Jugend. Das Resultat war differenziert. Manches wurde bestätigt, anderes aber auch nicht.

Besonders verblüffend die Erkenntnis, dass Veganismus oder auch Umweltschutz hierzulande durchaus religionsähnlichen Status haben können. Jedenfalls dann, wenn man den Religionsbegriff weit genug auslegt. Und: manche Weltbilder haben durchaus eine Konsumfunktion:

»Neue Religionen sind für sie wie ein Kleid, das sie sich zulegen und es ausmustern, wenn es nicht mehr gefällt«, sagt sie. Außerdem würden sich ihre Forschungssubjekte passiv verhalten: »Sie lesen nur Bücher und hören, was ihr Guru sagt.«

Religion ist nicht gleich Religion

Überlegungen zum Denken über Islam

In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau kritisiert der iranische Philosoph, Theologe und Schriftsteller Mohammad Mojtahed Schabestari die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Islam in Deutschland. Der Versuch, den Islam mit Begriffen zu erfassen, die aus der christlichen Theologie stammen, steht dem Verständnis des Islam im Weg. So umfasst z.B. der Begriff »Theologie« selbst dem Islam fremde Konzepte wie »Offenbarung« und ist deshalb für die Beschreibung des Islam ungeeignet. Weiter plädiert er für ein kritisches Verständnis von Religion, das ihre Begrenztheit anerkennt, ohne ihre – besonders für den Islam angeführte – Perfektion in Frage zu stellen. »Aus der Religion«, so Schabestari, »kann man nicht unmittelbar politische Rezepte ableiten.«

Opfer der Marktlogik

Geisteswissenschaften in England
Alte Tradition: Universität von Cambridge
Alte Tradition: Universität von Cambridge Bild von Elin B

Die Autonomie der Wissenschaft ist zu Recht ein hohes Gut. Um dieses zu gewährleisten, sorgt der Staat für eine angemessene finanzielle Grundlage, ohne auf die Inhalte und Forschungsvorhaben Einfluss zu nehmen. Das soll aber jetzt in England anders werden.

Die Evaluation der Qualität von Forschung läuft dabei nach standardisierten Methoden. Ein wichtiges Kriterium ist die quantitative Erfassung der Publikationshäufigkeit. Das gilt für alle Wissenschaften gleichermaßen – egal ob Philosophie, Mathematik oder Chemie. Eine Folge dieser Politik ist die Orientierung auf kurzfristige, schnelle Erfolge statt mutiger, innovativer Vorhaben. Die allgemeine Marktorientierung, die nach einem aktuellen Gutachten zur Grundlage der Wissenschaftspolitik werden soll, führt dabei unweigerlich zu einem Verkümmern der Geisteswissenschaften zugunsten der ökonomisch verwertbaren Naturwissenschaften.

Wissenschaftsprekariat

Beschäftigungsperspektiven an Hochschulen

Weitgehend unberücksichtigt in der politischen Debatte um prekäre – also befristete, schlecht bezahlte und unsichere – Arbeitsbedingungen sind die Verhältnisse in der Wissenschaft. Sowohl an Hochschulen als auch an selbstständigen Forschungseinrichtungen beträgt der Anteil prekär Beschäftigter knapp 90 Prozent der Forscher und Lehrenden. Tendenz steigend. Ursachen dieser Entwicklung sind mangelnde finanzielle Ausstattung und die zunehmende Bedeutung von Drittmitteln.

Während die Zahl der zeitlich unbefristeten Stellen kontinuierlich abnimmt, steigen die Anforderungen: Viele Wissenschaftler arbeiten so formal auf Teilzeitbasis, real müssen sie aber ein deutlich höheres Pensum leisten. In anderen westlichen Ländern gibt es einen sehr viel größeren Anteil an festen Verträgen, auch jenseits der Professur. Hinzu kommt, dass Frauen hierzulande noch immer unterrepräsentiert sind: Die Hälfte der Studienabsolventen sind weiblich, aber nur 15 Prozent der Professuren werden von ihnen bekleidet.

Schrift im Kopf

Neue Erkenntnisse der Hirnforschung
Schrift im Kopf

Die Fähigkeit zum Lesen verändert die Struktur des Gehirns – auch bei Menschen, die das Lesen erst später erlernen. Darunter scheinen jedoch andere Fähigkeiten wie die Gesichtserkennung zu leiden. Dies ergab eine Studie im Science Magazine. Dadurch wird deutlich, wie sehr die Hirnforschung noch am Anfang steht – und wieviele Erkenntnisse noch zu erwarten sind. Weitere Beobachtungen liefern Wissenschaftler der Universität von Wisconsin anhand des Hörens. Demnach basiert das Hören gleich einer Datenkompression auf der Unterscheidung von bekannten Mustern.

Langzeitfolgen

Eine neue Studie zur Auswirkung von Strahlung durch Kernkraftwerke
Eine der signifikantesten Abweichungen wurde um das <a href="http://www.dasdossier.de/presseschau/macht/netzwerke/angereichertes-material">Atomkraftwerk Krümmel</a> festgestellt <br/>Foto von Rainer Zimmermann
Eine der signifikantesten Abweichungen wurde um das Atomkraftwerk Krümmel festgestellt Foto von Rainer Zimmermann

Die Auswirkungen der Atomenergie sind gelinde gesagt umstritten. Wenig erforscht ist dabei die Auswirkungen von niedriger Bestrahlung auf lange Zeit, wie sie im Umfeld von Atomanlagen auftreten kann – so genannte radioaktive Emissionen im Normalbetrieb. Somit ist auch unklar, welche Grenzwerte kritisch sind. Eine Studie von drei Forschern des Münchener Helmholtzzentrums untersucht das Verhältnis der Geburtenzahl von Jungen und Mädchen. Demnach hatte die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in Europa zu einer erhöhten Anzahl von Jungen im Verhältnis zu Mädchen geführt. Laut der Studie soll dieser Effekt, ebenso wie ein erhöhtes Kinderkrebsrisiko, auch im Umfeld von Kernkraftwerken in Deutschland und der Schweiz auftreten. Die Forscher weisen allerdings darauf hin, daß für die Bestätigung des Befundes umfassenderes statistisches Material notwendig sei: Dann würde dieser unweigerlich großen Einfluß auf die Debatte über die Kernenergie haben.

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