Magazin Beitrag
Go West!
Die Vorstellung, dass der Westen den Gipfel menschlicher und gesellschaftlicher Entwicklung verkörpert, ist allgemein akzeptiert. Vom Westen selbst und von den anderen – der zweiten und dritten Welt, dem globalen Süden. Das zeigt sich unter anderem daran, dass der Westen Deutungshoheit darüber hat, was gut und richtig für ein Land, eine Gesellschaft, einen Staat oder eine Volkswirtschaft ist, und deshalb anderen Ländern in Form von IWF und Weltbank Entwicklungsvorgaben machen darf, die wohlwollend oder mit wenig Widerstand entgegen genommen werden.
Das Konzept der Entwickeltheit des Westens funktioniert als Dichotomie – das Gegenstück ist die angebliche Unterentwickeltheit des Südens. Dabei basiert diese Vorstellung gleich auf zwei Trugschlüssen. Erstens, dass der Westen durchweg so hochentwickelt sei, wie man glaubt, und zweitens, dass der Süden diese Entwickeltheit gänzlich vermissen ließe. Zur Probe braucht man nur einmal auf europäische und amerikanische Länder schauen und sich dabei vergessen machen, dass es sich um westliche Länder handelt. Dann bekommt man schnell den Eindruck, man würde auf Länder der zweiten oder dritten Welt schauen.
In einem Land zum Beispiel hört man regelmäßig von Morden an Zivilisten und Beamten (kein staatliches Gewaltmonopol) und der Schwarzmarkt für Drogen, Baugewerbe und Abfallwirtschaft ist in Teilen des Landes, besonders im Süden, größer als die legale Wirtschaft. Klingt nach Afghanistan? Beschrieben wurde Italien! – Geschichtliches und kulturelles Zentrum Europas. In einem anderen Land lebt die Hälfte der Bevölkerung in Armut, ignoriert von der anderen Hälfte, umgeben von Gewalt auf den Straßen und im Heim; der öffentliche Diskurs kann nicht mehr mit rationalen Argumenten geführt werden und das politische System ist undemokratisch aufgebaut, weil politische Vertreter nicht von Wählern, sondern von Geldgebern abhängen. Könnte ein osteuropäischer Bettlerstaat sein, oder eine arabische Scheindemokratie. Beschrieben wurden die Vereinigten Staaten. Anderswo wurden Jugendliche aufgrund von 'Unsittlichkeit' zu tausenden weggesperrt (keine Rechtsstaatlichkeit). Die Rede ist nicht von Argentinien oder Chile. Beschrieben wurde die Schweiz der 40er bis 80er Jahre. Ein von Industrieabwässern verseuchter Fluss fängt Feuer und brennt mit haushoher Flamme: Lagos in Nigeria, irgendwo in Pakistan? Nein, in Cleveland, einer Stadt in den USA.
Die Beispiele zeigen, manche westliche Länder können kaum als entwickelt gelten, denn es fehlen grundsätzliche Merkmale der Entwickeltheit: Rechtsstaatlichkeit, Gewaltmonopol des Staates, bevölkerungsübergreifend menschenwürdige Lebensumstände, mehrheitlich rationales Denken. Umgekehrt zeigt der Süden nicht übergreifend Unterentwickeltheit. Birma in Südostasien zum Beispiel brachte in den 40er Jahren eine Unabhängigkeitsbewegung hervor, deren Anführer ausgesprochen prinzipientreue Demokraten waren, die, anders als Anführer solcher Bewegungen in anderen Kolonien, nicht im Westen ausgebildet wurden. Das Andenken an Aung Sans politische Integrität und Professionalität verschafft seiner Tochter, Aung San Suu Kyi, bis heute breite Unterstützung in der Bevölkerung. Mehr noch, manche Gesellschaften im Süden scheinen im politisch-philosophischen Denken dem Westen gar voraus. In Südamerika haben einige Länder die ökologische Verträglichkeit der Wirtschaft mittlerweile in ihre Verfassung übernommen. Denn eins ist klar, Erderwärmung ungeachtet, die Menschheit verbraucht inzwischen mehr erneuerbare Ressourcen der Erde als diese regenerieren kann. Der Ausgleich von Ökologie und Ökonomie ist längst überfällig. Der Westen befindet sich diesbezüglich im Mittelalter.
Die Vorstellung, der Westen sei die Krönung menschlicher Entwicklung oder zumindest so weit entwickelt, wie er sich gibt, ist falsch. Umgekehrt ist der Süden nicht durchgehend unterentwickelt. Vielmehr gibt es in beiden Teilen der Welt entwickelte und unterentwickelte Regionen. Dabei wird deutlich, dass der Süden nicht mehr nur ökonomisch an Vorsprung gewinnt, sondern auch intellektuell.