Magazin Beitrag

Verdrängte Wanderer

Migration als globales Problem und Strategien der Auseinandersetzung (Teil II)
Die europäische Antwort auf Einwanderung: Stacheldraht an der EU-Außengrenze Griechenlands zur Türkei
Die europäische Antwort auf Einwanderung: Stacheldraht an der EU-Außengrenze Griechenlands zur Türkei Bild von Reinhard Dietrich

Unübersehbar sind die Menschenrechtsverletzungen der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik. Eine Diskussion über alternative Ansätze ist weder in den Mitgliedstaaten noch in einer europäischen Öffentlichkeit erkennbar. Das Problem wird ebenso verdrängt wie die Migranten selber – durch bis weit vor die europäischen Grenzen vorgeschobene Barrieren und Verträge. Dabei berührt diese Politik das Verhältnis zu dem Europa geopolitisch umgebenden Raum ebenso wie das Selbstverständnis des politischen Staatenbundes. Migration nach Europa ist verbunden mit zahlreichen Problemen unserer Gegenwart: Bürgerkriege, Klimawandel, Handelsbeziehungen und dem Gefüge der Staaten in Afrika und Asien.

Neben der Drittstaatenregelung, welche Migranten in Länder in und außerhalb Europas abschiebt, sofern diese als sicher gelten, wurde die Technologie zur Sicherung der Grenzen unter Einsatz großen Geldmittel fortentwickelt. Dieses System aus Verträgen und Grenzschutz betrachtet Migration als ein rein sicherheitspolitisches Problem. In dieser Hinsicht wurde häufig von einem „breiteren Ansatz der Sicherheitspolitik“ (a broader approach of security) gesprochen. Dieser bedeutet, Einwanderung nicht als politisches oder soziales Problem zu betrachten, sondern durch Mittel der Sicherheitspolitik, also von Polizei und Militär zu lösen. Insofern erscheint es logisch, daß Frontex von einem vormaligen Militär, Ilkka Laitinen, geleitet wird.

Dadurch geraten andere Lösungsansätze von vornherein aus dem Blick. Diese Politik findet ihre Entsprechung in einer Interventionspolitik, welche Probleme zunächst militärisch lösen möchte, in denen Entwicklungspolitik zu bloßem Beiwerk verkommt.

Läßt man zunächst die politische Realität in den Ländern hinter diesem neuen eisernen Vorhang vorerst außer Acht und betrachtet die innereuropäische Situation, so fällt auf, daß keine funktionierende Asyl- und Einwanderungspolitik existiert. Die Drittstaatenregelung durch das Dublin-II-Abkommen läßt die Staaten mit europäischen Außengrenzen allein. In davon besonders betroffenen Ländern wie Griechenland existiert kein funktionierendes Asylsystem. Ebensowenig exisitiert eine europäische Quotenregelung für Einwanderer. De facto ist das Recht auf Asyl in Europa ausgehebelt und durch eine Willkürpolitik ersetzt worden. Die europäischen Kernstaaten haben dabei die Grenzstaaten schlicht übers Ohr gehauen, weil diese für die Belastung keinen Ausgleich erfahren.

Ein globales und euopäisches Problem

So werden Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen, wenn sie über Griechenland eingereist sind, dorthin abgeschoben. Griechenlands Asylsystem ist jedoch so hoffnungslos überfordert, daß nicht einmal eine ordnungsgemäße Registrierung möglich ist. Der Bundesinnenminister hat Anfang diesen Jahres die Abschiebung nach Griechenland vorläufig ausgesetzt, um den Richtern in Karlsruhe zu ermöglichen, sich in einem Verfahren um diese Regelung vor einem Grundsatzurteil zu drücken. Das Problem bleibt aber weiterhin ungelöst.

Eine Neuregelung dieser Politik ist dringend notwendig. Dafür wären sowohl Grundzüge einer vereinheitlichten Politik der Anerkennung von Asylgründen notwendig, als auch eine gemeinsame Einwanderungspolitik. Neben Quotenregelungen für Einwanderung und Asylbewerber in Europa bedarf eine europäische Migrationspolitik einer Gerichtsbarkeit sowie einem steuernden Behördenapparat. Dies setzt jedoch ein Bewußtsein voraus, das Migration als einen Wert und eine Notwendigkeit betrachtet an Stelle einer rein sicherheitspolitischen Frage. Das hätte zur Folge, daß Politiker anderer Ressorts in die Öffentlichkeit treten und die Politik bestimmen als die Innen- und Sicherheitspolitiker.Die Europäische Union mit 500 Millionen Einwohnern besitzt ausreichende Ressourcen für Immigration, die nicht genutzt werden; die Möglichkeiten für einen produktiven Umgang mit Migration sind blockiert.

Recht auf Migration?

Aber es gibt auch eine viel grundsätzlichere, rechtsphilosophische Fragestellung: Welche Menschenrechte sollen eingefordert werden? Gibt es neben dem in Lumpen laufenden Grundrecht auf Asyl, dem Flüchtlingsschutz und dem Recht auf Reisefreiheit weitere international einzufordernde Rechte? Ist nicht Migration auch ein Recht, welches wir als Europäer wie selbstverständlich in Anspruch nehmen? Warum dürfen Menschen nicht dort leben wo sie wollen? In Anbetracht der Realität, in der wir leben, ist dies eine unerhörte Forderung. Die Türen nach Europa einfach öffnen? Mit welchen Konsequenzen?

Sicher wären die Folgen einer Migrationsfreiheit nicht derart gravierend wie die darauf projizierten Ängste. Diese Furcht vor unbeschränkter Einwanderung gab es in der Vergangenheit bei jedem Beitritt zur europäischen Gemeinschaft, ohne daß sie begründet war. Daher würde sich die weit realistischere Frage stellen, wie groß das Migrationspotential bezogen auf den Raum der Europäischen Union ist. 2006 wanderten laut Eurostat 1,8 Millionen Menschen aus Ländern außerhalb der EU ein: die meisten aus Marokko, Ukraine, China, Indien, Bolivien und Albanien. Dabei wird die unregulierte –- auch als illegal bezeichnete – Migration statistisch nicht erfaßt. Geschätzt wird die Zahl der Migranten ohne Papiere in der EU zwischen 4 und 8 Millionen. Schätzt man die Zahl neuer Einwanderer auf eine halbe Millionen pro Jahr, wäre die Zahl der Einwander ohne Papiere ein bedeutender, aber kleinerer Anteil: Zählt man die 4 Millionen binneneuropäischen Migranten (2006) hinzu, die aus einem europäischen Staat in einen anderen ziehen, so liegt der Anteil der Einwanderer ohne Papiere pro Jahr bei einem Achtel aller Einwanderer.

Mythen über die Einwanderung

Bootsflüchtlinge, wie hier auf Lampedusa prägen das öffentliche Bild der Migration Bild von noborder network

Die meisten davon kommen jedoch legal nach Europa und bleiben über die Dauer ihres Aufenthaltsrechts, obwohl Bootsflüchtlinge das mediale Bild prägen. Bezogen auf die Migration aus afrikanischen und asiatischen Staaten ist die Migration in Nachbarländer weit höher als die nach Europa. Dabei wäre äußerst fraglich, ob sich dies bei einer liberaleren Einwanderungspolitik ändern und die Migrationsströme anschwellen würden. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen der EU und dem geopolitisch umgebenden Raum wird die massive Einwanderung ohnehin bestehen lassen. Eine restriktive oder liberale Migrationspolitik hat nicht zwangsläufig einen Einfluß auf die Anzahl der Einwanderer: Trotz der restriktiven Politik der EU durch das Schengen-II-Abkommen hat die Zahl der irregulären Migranten zugenommen. Die stillschweigende Annahme, eine repressive Flüchtlingspolitik würde vor der Einwanderung abschrecken, darf als völlig unbelegter Mythos gelten.

Die Abschottung verringert eher die Möglichkeit der sinnvollen Steuerung der Migration. Dagegen würde eine größere Zahl an legaler statt illegaler Einwanderung vor Lohndumping schützen –- sowohl die Migranten als auch die einheimischen Arbeitnehmer. Geregelte Einkommen hätte auch höhere Steuereinnahmen zu Folge.

Viele Migranten kommen aus Ländern wie Afghanistan oder Somalia, in denen Bürgerkrieg herrscht, oder aus Ländern, die von großer Armut betroffen sind. Die europäische Politik bezogen auf den asiatischen und afrikanischen Raum ist aber von eigenen Interessen geprägt; dabei finden die Beziehungen kaum auf gleicher Augenhöhe statt. Die Migrationsabwehr über Frontex sowie der Umgang mit den Problemen dieser Region weisen dabei eine Parallele auf: Sie sind von militärischen und sicherheitspolitischen Prämissen geprägt. Das Scheitern des Afghanistan-Einsatzes steht auch in Zusammenhang mit einer fehlenden Entwicklungspolitik, welche der Bevölkerung wirtschaftliche Perspektiven aufzeigt. Erst im Rahmen der Aufstandsbekämpfung soll die Bevölkerung gewonnen werden. Ebenso die Situation in Somalia wird lediglich als Bedrohung der eigenen Handelswege gesehen. Dabei wurde die Piraterie dort auch verursacht durch Konzerne mit Sitz in Europa, welche die Küsten vor Somalia und Senegal leer fischen. Dementsprechend ist die Grenzpolitik eine Frage von höheren Zäunen, schnelleren Booten, Abschiebeabkommen und besserer Überwachung.

Der Raum von Kirgisien bis zum Kongo ist im Verhältnis zur EU von Armut und Instabilität geprägt. Die EU steht an einem Punkt, diesen Raum nicht als Ort für eine notwendige und verantwortungsvolle Enwicklungspolitik zu betrachten, sondern als eigenen Vorhof zur Durchsetzung eigener Interessen. Das ungleiche Verhältnis zwischen der wirtschaftlichen Macht der EU und ihrem umgebenden Raum könnte zu einer neue »Monroe-Doktrin« führen, welche Nordafrika und Vorderasien zum Hinterhof seiner Interessen macht. Dabei sind die Handels-, Migrations- und Menschenrechtspolitik wichtige Hebel im Verhältnis zu den Staaten dieses Raumes. Eine an Sicherheitspolitik statt an Entwicklungspolitik orientierte Politik wird die Instabilität dieser Regionen noch verstärken.

Die treibende Kraft für Auswanderung ist neben Bürgerkriegen und Klimawandel die Handelspolitik Europas und der USA. Während für die Weltbank und den IWF eine Liberalisierung der Märkte der Entwicklungsländer nach wie vor Doktrin sind, leistet der Westen sich durch Agrarsubventionen einen umfassenden Protektionismus gerade in den Märkten, auf denen diese Länder eigentlich eine Chance hätten. Sie haben dadurch nicht nur mit Handelserschwernissen zu kämpfen, die Preise für Waren werden dadurch auch systematisch nach unten gedrückt und die notwendigen Gewinne für eine wirtschaftliche Entwicklung versagt. Gerade die daraus entstehende Mischung aus Armut und Perspektivlosigkeit zwingt geradezu in die Auswanderung. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn Einwanderer das Obst und Gemüse in Südeuropa bearbeiten, welches aufgrund der Handelshemmnisse nicht aus ihren Herkunftsländern importiert werden kann. 1 Der vorgeblichen Liberalisierung des Welthandels wird somit ein destruktiver Protektionismus entgegengestellt, der sich wie eine Fortsetzung kolonialer Handelsbeziehungen liest.

Western Union als Entwicklungsbank

Die in Europa arbeitenden Einwanderer spielen bereits heute eine wichtige Rolle in der Stabilisierung dieser Regionen, indem sie durch Transferzahlungen einen wichtigen Anteil zum Bruttoinlandsprodukt vieler Länder beitragen. Diese Entwicklungspolitik wurde jedoch in keinem Ministerium erdacht. Dies zeigt jedoch eine Perspektive, wie Migration eine tragende Rolle in einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation ihrer Herkunftsländer spielt. Will Europa nicht von einer Region der Instabilität umgeben sein, muß der Staatenbund seine aktuelle Politik konsequent überdenken. Dazu zählt zuallererst eine andere Handelspolitik.

Werden Einwanderer nicht in erster Linie als Belastung oder unter Berücksichtigung eigener wirtschaftlicher Interessen betrachtet, können sie eine tragende Rolle in der Entwicklung ihrer Herkunftsländer spielen: Als kulturelle Mittler, aber auch durch Wissenstransfer. Durch die Kenntnis beider Kulturen können sie beiden Seiten Probleme vermitteln. Durch Ausbildung erworbenes Wissen kann in die Herkunftsländer einfließen. Ihre höheren Löhne in Europa können in Ländern mit durch geringere Produktivität niedriger bewerteten Währungen eine größere wirtschaftliche Rolle spielen. Dafür darf die Perspektive auf Einwanderer nicht vom eigenen Nutzen und durch Bedrohungsängste geprägt sein.

Migration berührt also die Innen- und Sicherheitspolitik, den Klimawandel, die Handelsbeziehungen und nicht zuletzt das europäische Selbstverständnis und das Verhältnis zum umgebenden geopolitischen Raum. Sie zwingt zur Auseinandersetzung mit vielen zentralen Problemen unserer Zeit.

Fazit

Migration ist ein natürliches Phänomen in einer gloabalisierten Welt, immer schon war sie mit einer Hoffnung auf ein besseres Leben verbunden. Zugleich ist sie verbunden mit zahlreichen Krisen. Das öffentliche Bild wird geprägt durch Ängste und Mythen: Verbreitet ist eine Furcht vor dem Ansturm von Flüchtlingen an den europäischen Grenzen, obwohl diese nur einen kleinen Teil der Einwanderung ausmachen. Der Großteil an Kriegs- und Hungerflüchtlingen gehen derweil nicht nach Europa, sondern in Nachbarländer. Die europäische Migrationspolitik konzentriert sich auf Repression und höhere Zäune: Ob diese eine abschreckende Wirkung haben, darf bezweifelt werden. Insofern betreibt die EU eine Politik, welche Menschenrechtsverletzungen billigend in Kauf nimmt – ohne einen sachlichen Grund. Eine Änderung dieser Politik setzt die Aufklärung über dieses schiefe Bild ebenso voraus, wie ein Bewußtsein für die Chancen der Migration. Eine europäische Neuregelung der Asyl- und Migrationspolitik ist ein dringlicher erster Schritt: Eine solche ist zwingend mit einer Quotenregelung verbunden. Darüber hinaus ist die Handelspolitik der EU eine Triebfeder für Auswanderung. Die Änderung der Handels- und Agrarpolitik ist ein wichtiger Baustein für eine neue Entwicklungspolitik, die zur Sicherheit des Europa umgebenden Raum beitragen kann.

  • 1. vgl. mit dem Film „Let's make money“