Die aktuellen finanzpolitischen Probleme einer ganzen Reihe von Euroländern haben vielfältige Ursachen. Die „Rettungspakete“ in Form von staatlichen Krediten sind aber offensichtlich nicht in der Lage, diese Probleme dauerhaft zu lösen. Stattdessen sind sie nur ein Tropfen auf den heißen Stein und werden aus verschiedenen Gründen weitgehend wirkungslos verpuffen. Was ist in dieser Situation zu tun?
Die letztlich grundlegende Ursache der Krise betrifft die unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der einzelnen Euroländer. Das zeigt sich zum Teil in den langfristigen Wachstumsraten, aber besonders im Auseinanderklaffen der Lohnstückkosten. Letztere sind maßgeblich für die Wettbewerbsfähigkeit. Vor allem dann, wenn in einem gemeinsamen Währungsraum die Möglichkeit der Abwertung für die schwächeren Länder nicht gegeben ist. Im Zeitraum von 2001 bis 2008 [9] stiegen die Lohnstückkosten in Deutschland um gerade einmal 5,4% und damit deutlich unter dem Durchschnitt der Euroländer; in Griechenland dagegen beträgt dieser Wert 17%, in Irland 34,6%, in Spanien 16,5% und in Italien immerhin noch 9,7%. Damit haben sich die schon vor der Einführung des Euros bestehenden Unterschiede also noch weiter verstärkt. Das Leistungsbilanzsaldo, also die Zusammenführung aller Güterströme zwischen In- und Ausland, kann Aufschluss über die konkreten Auswirkungen dieser Differenzen geben. Im Durchschnitt der Jahre 2002 bis 2009 erwirtschaftete Deutschland ein jährlichles Plus in Höhe von 4,8% des BIP, die Niederlande sogar einen Zuwachs von 6,5%. Dem stehen auf der anderen Seite notwendigerweise Defizite gegenüber: in Griechenland -9,7%, in Irland -2,8%, in Spanien –6,7% und in Italien –2%. Denn irgendwer muss ja die Waren und Dienstleistungen kaufen, die hierzulande bereitgestellt werden.
Da die schwächeren Länder aber keine entsprechenden Verkäufe tätigen konnten, mussten sie sich immer weiter im Ausland verschulden. Natürlicherweise kamen diese Gelder vor allem aus den Ländern, die durch ihre Handelsüberschüsse über reichlich Liquidität verfügen, allen voran von deutschen Banken. Irgendwann ist jedoch der Punkt erreicht, an dem private Gläubiger nicht mehr bereit sind, diesen schuldenfinanzierten Verbrauch weiter zu stützen. Es wird einfach immer wahrscheinlicher, dass die gewaltigen Kredite nicht mehr bedient werden können. Damit steigen aber die Zinsen für neue Kredite: Je riskanter das Geschäft, desto höher die „Risikoprämie“. Spätestens jetzt steigen die Schulden den Schuldnern über den Kopf. Im konkreten Fall bedeutete das, dass die reichen Länder mit staatlichen Bürgschaften oder Krediten einspringen mussten. Diese Gelder kommen aber gar nicht bei den Menschen vor Ort an. Vielmehr werden damit nur die laufenden Zinsen und Tilgungen der Bankkredite abgesichert oder bezahlt – faktisch also vormals private in staatliche Kredite umgewandelt [10]. Schon jetzt ist der größte Teil der Kreditforderungen in staatlicher Hand; allein die Europäische Zentralbank (EZB) kaufte für knapp 80 Mrd. Euro Staatsanleihen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die EZB zum Teil sehr fragwürdige Sicherheiten [11] für Kredite an die Einzelstaaten akzeptiert hat; unter Umständen muss sie daher Milliardensummen abschreiben. Die Vergabe durch die EZB ist aber für diese Länder von großer Relevanz, denn auf dem privaten Kapitalmarkt können sie kaum noch Gelder erhalten.
Momentan richtet sich fast die ganze Aufmerksamkeit auf Griechenland. Aber die anderen Krisenländer haben noch weit größere Schulden in ihren Büchern stehen. Nach den letzten verfügbaren Zahlen von Ende 2010 heißt das konkret: Griechenland hat 278 Mrd. Dollar Auslandsschulden, Irland 814 Mrd., Spanien 1099 Mrd. und Portugal 322 Mrd. Deutschland – als Staat und durch seine privaten Banken - hält einen Anteil von knapp 570 Mrd. Dollar dieser Forderungen. Mittlerweile dürften diese Zahlen aber noch deutlich gestiegen sein. Und ein Ende der Krise ist nicht absehbar. Die nächsten Folgen könnten so aussehen: Nicht nur die südlichen, auch die nördlichen Euroländer fallen immer tiefer in die Schuldenfalle; die Haushaltsdefizite steigen weiter, das ganze Finanzsystem, momentan ohnehin noch geschwächt durch die Finanzkrise seit 2008, wird noch mehr destabilisiert. Die Realwirtschaft wird dadurch massiv unter Druck gesetzt, eine langanhaltende Rezession wäre das Ergebnis. Übrigens auch in Deutschland. Denn zum einen fehlt die Nachfrage nach deutschen Produkten aus diesen Ländern und durch die Verwerfungen in der hiesigen Finanzbranche wird es für Unternehmen schwieriger, an Kredite für Investitionen zu kommen. Zumal die vom Staat aufgenommenen Kredite das verfügbare Geld der Privatwirtschaft entziehen.
Die politischen Folgen sind bereits in Ansätzen festzustellen: Vor allem in Spanien [12] und Griechenland [13] führten die harten Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand im Verbund mit einer wirtschaftlichen Rezession und hoher Arbeitslosigkeit zu wachsender Unzufriedenheit. Insbesondere der jüngeren Generation, die sich jeglicher Perspektiven beraubt sieht. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis diese Entwicklung auch auf Portugal, Italien und Irland übergreift. Auf der anderen Seite nehmen populistische Ausflüchte zu – Angela Merkels unsägliche Bemerkungen genauso wie die Hetzkampagne der Bild gegen angeblich faule Griechen zeigen, dass sich das Klima zusehends verschärft. Es besteht jedenfalls keine Garantie, dass die sozialen und ökonomischen Verwerfungen zu einer progressiven Wende in Europa führen. Genausogut könnten Nationalismus und Rechtspopulismus Zulauf erhalten. Wird hier nicht rechtzeitig und nachhaltig gegengesteuert, drohen gefährliche Entwicklungen.
Es stellt sich also die Frage, was getan werden müsste, um diese unheilvolle Perspektive abzuwenden. Ein einfaches „weiter so“ kann es nicht geben, so viel ist klar. Strittig ist dagegen, wie umfassend die notwendigen Reformen angelegt sein müssten - und ob diese politisch durchsetzbar sind. Im Folgenden sollen einige Optionen vorgestellt werden.
Eine Wirtschaft wie die griechische durch die Rosskur einer Sparoffensive zu „heilen“, kann nicht funktionieren. Die bisherigen Bemühungen in dieser Richtung waren sogar ausgesprochen kontraproduktiv. 2011 weist das Land sehr wahrscheinlich den dritten Rückgang seines BIP in Folge auf. Das kann auch nicht verwundern, denn die Massenentlassungen, Lohnkürzungen und die Demontage der sozialen Sicherungssysteme haben die Binnennachfrage schwer getroffen. Auf diese Weise entsteht eine deflationäre Entwicklung, die das Land auf viele Jahre lähmen wird – von den verheerenden sozialen Folgen ganz zu schweigen. Dennoch wurden bereits weitere Ausgabenkürzungen von 12 Mrd. Euro angekündigt. In Spanien und anderswo sieht die Lage ähnlich aus.
Die Privatisierungen [14] sollen zahlreiche Unternehmen betreffen, unter anderem die Eisenbahn, Häfen, Flughäfen, Glücksspiel, Telekommunikation. Man erhofft sich dadurch schnelle Einnahmen in Höhe von ca. 50 Mrd. Euro. Erste Interessenten auch aus Deutschland stehen schon bereit: Fraport möchte den Athener Flughafen kaufen, Rheinmetall den Rüstungskonzern EAS. Die Umsetzung dieser Vorhaben dürfte aber in jedem Fall ein schlechtes Geschäft für Griechenland werden. Unter dem aktuellen Druck und dank der massiven Probleme werden die Unternehmen billig verkauft werden müssen. Langfristig schadet das auch der Handlungsfähigkeit des Staates, der dann in wichtigen Bereichen der Infrastruktur und Grundversorgung keine Einflussmöglichkeiten mehr hat. Hinzu kommt, dass die Privatisierungen unter der direkten Kontrolle [15] der EZB, des IWF und der europäischen Kommission ablaufen sollen. Ihnen würde ein Vetorecht in allen hierbei relevanten Entscheidungen eigeräumt werden. Gleichzeitig bestehen sie darauf, dass die – immerhin demokratisch gewählte - griechische Regierung außen vor bleibt. Mit Hilfe von entsprechenden Gesetzen wären diese Entscheidungen auch in Zukunft nicht mehr rückgängig zu machen. Da diese Regeln an die Vergabe neuer Kredite gekoppelt sind, kann man hier ohne weiteres von einer politischen Erpressung sprechen. Mit Demokratie oder europäischer Solidarität hat das natürlich nichts zu tun. Vielmehr würden die Filetstücke der hellenischen Wirtschaft zu Schleuderpreisen an nordeuropäische Konzerne verkauft, unrentable Teile dann schnell abgewickelt werden. Gewisse Parallelen zur Privatisierungspraxis der Treuhandanstalt in Ostdeutschland sind nicht zu übersehen.
Einige Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion ließen sich verhältnismäßig leicht korrigieren. Beispielsweise die Unabhängigkeit der EZB. Die verhindert nämlich eine institutionenübergreifende Koordination der Wirtschaftspolitik, da sie an Weisungen der nationalen Regierungen genauso wenig gebunden ist wie an solche von Seiten der EU. Denkbar wäre hier eine demokratische Kontrolle durch und Rechenschaftspflicht gegenüber dem Europäischen Parlament. Hier stellt sich zwar das Problem, dass nicht alle EU-Mitglieder auch den Euro eingeführt haben. Aber das ließe sich relativ unkompliziert dadurch lösen, dass in solchen Fragen nur diejenigen Parlamentarier Mitspracherechte haben, die aus Euro-Ländern kommen.
Darüber hinaus müssten die Maastrichter Konvergenzkriterien erweitert werden. Wachstum und Beschäftigungsaufbau sollten ebenso wichtig sein wie die bisher allein maßgebliche Inflationsbekämpfung. Auch enthalten die Vorgaben der Wirtschafts- und Währungsunion sehr starre Verpflichtungen in Bezug auf Haushaltsdefizit und Schuldenstand. Die aktuelle Krise hat aber mehr als deutlich gezeigt, dass diese Regelungen nicht immer greifen können. Zumal Ungleichgewichte in der Leistungsbilanz überhaupt nicht berücksichtigt werden. Sinnvoller wären also Regularien, die den Bedürfnissen und der Leistungsfähigkeit der einzelnen Länder angepasst sind. Im Übrigen ist das Ziel eines positiven oder ausgeglichenen Haushaltes generell fraglich. Denn ein Staat hat nicht die Aufgabe, Profit zu erwirtschaften, sondern er muss seinen Bürgern eine funktionierende Infrastruktur, Rechtsschutz, Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit gewähren. Man könnte noch weiter gehen und sagen: Der Staat hat auch Sorgen zu tragen für eine antizyklische Konjunkturpolitik. Dann müsste er bei nachlassender privater Nachfrage stützend eingreifen. Zu diskutieren wäre jedenfalls nicht ob, sondern wie viele Schulden er machen darf. Und hier gehen die Meinungen natürlich auseinander. Wichtig ist jedoch, dass er flexibel auf Krisen reagieren kann – und dafür braucht er Spielraum bei der Kreditaufnahme.
Die Festlegung Europas auf eine neoliberale Wirtschaftspolitik, wie sie im Vertrag von Lissabon enthalten ist, müsste aufgehoben werden. Dafür wäre freilich die Zustimmung aller 27 Mitgliedstaaten erforderlich – fraglos eine hohe Hürde. Dennoch hat die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht, um eine flexible und ausreichende Antwort auf die Krise zu ermöglichen.
Ein Ausstieg aus dem Euro hätte für die Südeuropäer zunächst den unbestreitbaren Vorteil, die Entscheidungsgewalt über ihre nationale Währungspolitik zurückzugewinnen. Das würde mit Sicherheit eine Abwertung ihres neuen Geldes nach sich ziehen und so die eigene Wirtschaft im internationalen Vergleich wieder wettbewerbsfähiger machen. Ihre Schulden lauteten dann aber nach wie vor auf Euro – und damit würde eine Rückzahlung noch viel schwieriger werden. Über höhere Steuern könnten diese Summen kaum aufgebracht werden. Und der politische Preis wäre für ganz Europa erschreckend hoch. Denn ein Ende der Währungsunion in ihrer heutigen Form wäre das Eingeständnis, dass die europäische Einigung gescheitert ist. Sie würde die weitere Integration um Jahre zurückwerfen oder ganz zum Erliegen bringen. Der Rest-Euro hätte kaum noch international das Gewicht einer globalen Leitwährung neben dem Dollar, der ihm heute zukommt. Möglicherweise würden sich auch einige Staaten in einen neuen Protektionismus flüchten, um ihre Wirtschaft zusätzlich vor Konkurrenz zu schützen – eine Kettenreaktion, an deren Ende die ökonomische Verflechtung und der Handel bedenklich zurückgehen würden. Alles in allem also nur scheinbar eine „einfache Lösung“; in Wirklichkeit würden sich so die Probleme keineswegs beheben lassen, sondern sogar verschärft werden.
Wenn die eingangs dargestellte Ursache der Probleme richtig ist, kann nur eine weitgehende Abkehr von der bisherigen Wirtschaftspolitik langfristig Erfolg haben. Das würde aber bedeuten, dass auch die exportstarken Länder wie die Niederlande und Deutschland neue Wege gehen müssen. Statt auf einen gnadenlosen Wettbewerb zu setzen und so das Gleichgewicht zwischen den Ländern zu untergraben, würde das bedeuten: Eine großzügige Lohnpolitik, die dann zu einer entsprechend steigenden Binnennachfrage führen würde. Damit könnte der Einbruch der Exporte kompensiert werden. Vor allem aber würde so die fatale Entwicklung, dass hierzulande zwar die Produktivität und die Gewinne aus Kapitalvermögen gewaltig zunahmen, die Löhne aber bestenfalls stagnierten, wirksam umgekehrt werden. Begleitend müssten die Sozialsystemausgebaut werden, um auch Teilhabe und Kaufkraft der Erwerbslosen zu verbessern. Massive staatliche Investitionen in lange vernachlässigte Bereiche wie die Bildung und eine konsequente Förderung erneuerbarer Energien wären ebenfalls denkbare Bestandteile eines solchen Konzepts. Dadurch könnten auch die gerade neu entstehenden Wachstumsmärkte [16] erschlossen werden. Zumal so eine wirkliche Energiewende nachhaltiger gestaltet würde – und nicht zu mehr Importen von fossilen Brennstoffen führen würde.
In den Krisenländern des Südens müsste ebenfalls eine Neuausrichtung erfolgen. Denkbare Säulen wären dabei der Tourismus und die Nahrungsmittelerzeugung, aber auch eine gezielte Förderung von Hochtechnologie. Damit könnte man einerseits bereits starke Branchen weiter ausbauen und durch zukunfsträchtige Sparten ergänzen.
All das wird aber kurz- und mittelfristig gewaltige Summen an Kapital erfordern. Das instabile und spekulative Finanzsystem hat in der Vergangenheit gezeigt, dass es zu solchen Maßnahmen nicht in der Lage ist. Hier fehlt einerseits der lange Atem, andererseits der politische Wille, solche tiefgreifenden Strukturreformen mitzutragen. Die Konsequenz kann also nur lauten: Ausbau eines demokratisch kontrollierten öffentlich-rechtlichen Finanzsektors, Ende der massiven Subventionierung privatkapitalistisch orientierter Banken. Diese Banken im öffentlichen Eigentum müssten klare Vorgaben für ihre Geschäftspolitik erhalten. Ein mögliches Vorbild wäre hier die jahrzehntelang erfolgreiche Arbeit der deutschen Landesbanken – bis sie in der jüngsten Vergangenheit das Geschäftsmodell der Privatbanken kopierten und damit gescheitert sind.
In dieser Richtung funktionsfähige Konzepte zu erarbeiten und durchzusetzen, darf aber nicht nur der Politik überlassen werden. Hier ist steter und entschlossener Druck „von unten“ erforderlich. In Spanien und anderswo hat sich ja gezeigt, dass der Wille zu Veränderungen durchaus vorhanden ist. Was bisher fehlt, sind wirksame Organisationen und klare Vorstellungen. Es bleibt also noch viel zu tun.
Links:
[1] http://wiki.dasdossier.de/taxonomy/magazin/1756
[2] http://wiki.dasdossier.de/schwerpunkt/weltwirtschaftskrise
[3] http://wiki.dasdossier.de/stichwort/europaeische-union
[4] http://wiki.dasdossier.de/stichwort/euro
[5] http://wiki.dasdossier.de/stichwort/neoliberalismus
[6] http://wiki.dasdossier.de/stichwort/ezb
[7] http://wiki.dasdossier.de/stichwort/waehrungsunion
[8] http://wiki.dasdossier.de/nutzer/axel-weipert
[9] http://www.boeckler.de/119_114027.html
[10] http://www.neues-deutschland.de/artikel/198812.sozialisierung-der-glaeubiger.html
[11] http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,766905,00.html
[12] http://wiki.dasdossier.de/../../magazin/macht/organisationen-parteien/im-namen-der-demokratie
[13] http://wiki.dasdossier.de/../../presseschau/gesellschaft/soziale-bewegungen/widerstand-der-gleichen
[14] http://www.handelsblatt.com/politik/international/warum-sparen-allein-nicht-hilft/4257462.html?p4257462=all
[15] http://www.wsws.org/de/2011/jun2011/grie-j04.shtml
[16] http://wiki.dasdossier.de/../../presseschau/wirtschaft/staat-und-wirtschaft/gewinner-und-kaum-verlierer