Presseschau Beitrag

Der Stab des letzten Bey

Europa verantwortlich für Aufruhr in Nordafrika?

Algerien und Tunesien sind im Aufruhr: Laut unterschiedlichen Angaben von Regierung und Opposition sind in Tunesien in den vergangenen Tagen zwischen 20 und 50 tote Demonstranten durch die Polizei zu beklagen, in Algerien sollen 3 Menschen zu Tode gekommen sein. Nachdem ein verzweifelter junger Mann in Tunesien sich selbst verbrannte, sind die inneren Widersprüche der Länder offen zu Tage getreten. Die Regierung von Zine al-Abidine Ben Ali weiß sich nur durch Abriegelung ganzer Regionen, Kommunikationssperre und härtester Repression zu helfen. Sowohl die Exil-Oppositionelle Sihem Bensedrine als auch die belgische Tageszeitung Le Soir machen Europa für die Misere Nordafrikas mitverantwortlich. Denn die Staaten der Europäischen Union kooperieren eng mit den autoritären Regierungen, haben lediglich Flüchtlingsabwehr und Kampf gegen Islamismus in ihrem Fokus.

Insbesondere Frankreich, so Bensedrine, unterstütze den tunesischen Präsidenten. Dabei meint Baudouin Loos in Le Soir, daß die Regierungen die Terrorangst des Westens für ihre Legitimierung nutzen:

Der 11. September kam diesen arabischen Regimes wahrscheinlich gerade recht und sie begriffen wohl schnell, dass eine geschickte Ausnutzung der terroristischen Ereignisse die wenigen, die nördlich des Mittelmeers noch Vorbehalte gegen eine Unterstützung solch undemokratischer Systeme hatten, umstimmen könnte.

Jeremy Keenan meint im Interview mit Telepolis gar, daß Al-Qaida im Islamischen Maghreb womöglich eine Kreation der Geheimdienste sei, um von inneren Problemen abzulenken.

Bereits im September analysierte Larbi Sadiki von der Universität Exeter die Machtverhältnisse in Tunesien: Er verglich Ben Ali mit einem Bey, den Statthaltern des osmanischen Reichs.

Kommentar

Die harten Auseinandersetzungen in Tunesien und Algerien stehen stellvertretend für die Situation in ganz Nordafrika. Die Bevölkerungsmehrheit in Ägypten, Marokko, Algerien und Tunesien ist jung, arm und sieht in Diktatur, Präsidialrepublik und konstitutioneller Monarchie keine Perspektive für ihre Zukunft. Armut und Freiheitsdrang lassen den Blick auf das nahe Europa schweifen. Eine ganze Generation richtet ihre Hoffnung mehr auf Auswanderung, denn auf politische Veränderung. Unfreiheit, Korruption und ungleiche soziale Verhältnisse bedingen sich einander.

Europa dagegen sieht bislang in den Staaten lediglich Instrumente, seine Interessen durchzusetzen; die sogenannten europäischen Werte zählen nur bis zur Haustür. Das Schreckgespenst des Islamismus und der Einwanderung ist das Argument, Mubarak und Ben Ali zu unterstützen, anstelle der dortigen Zivilgesellschaft. Doch Aufruhr gegen die herrschenden Verhältnisse durchzieht die Gesellschaften Nordafrikas. Würde nur ein Staat wie Tunesien sich von der autoritären Herrschaft befreien, die Rückwirkung wäre enorm.

Das geringe Interesse an einer demokratischen Veränderung spiegelt sich auch in der weit dünneren Berichterstattung im Vergleich mit den Protesten im Iran.

Wenn sich mehrere Menschen selbst verbrennen, zeigt das ein enormes Ausmaß an Verzweiflung. Europa muß aufhören, ein instrumentelles Verhältnis zu Menschenrechten und Migration zu haben.