Magazin Beitrag

Bekenntnisse eines Gekaperten

Ein Gastbeitrag von Stefan Rose
Adbusting in Berlin 2005
Adbusting in Berlin 2005 Bild von eni-one

Es war Hans-Olaf Henkels kanalrattiges Grinsen, das eine Warnung hätte sein müssen. Am späteren Abend des 27. September 1998 fragte ein Reporter in Berlin den damaligen BDI-Präsidenten mit sichtlicher Vorfreude darauf, dass er und seine Bagage jetzt wohl etwas kleinere Brötchen würden backen müssen, ob er denn auch mit Sozialdemokraten reden würde. Henkel antwortete, siegesgewiss feixend, er rede grundsätzlich mit Siegern. Sprach’s und verschwand im Hinterzimmer. Der Mann schien bereits zu wissen, dass seine Party jetzt erst richtig losgehen würde. Viele andere wussten es nicht.

Die Wahl Gerhard Schröders 1998 war vor allem eine Abwahl Helmut Kohls. Sechzehn immer bleiernere Jahre hatten wir den listigen Pfälzer ertragen, der wie kein Zweiter die nach außen hin so gemütliche deutsche Provinz verkörpern konnte. Leutselig, friedlich und verschmitzt nach außen, latent feindselig, nachtragend und kniepig hinter der Fassade.

Nach seiner vierten Amtsperiode war er verbraucht, das politische Kapital als Kanzler der Einheit aufgezehrt. Kohl hatte versäumt, rechtzeitig einen Nachfolger aufzubauen und die CDU längst allein auf sich ausgerichtet. Dadurch war der Laden am Ende dieser sechzehn Jahre ausgepowert, verbraucht wie eine baufällige Baracke bei Regenwetter. Einer der letzten, die Kohl noch treu den Steigbügel hielten, war der speichelleckende Pfarrer Peter Hintze, sein Wahlkampfmanager. Der hat vermutlich bis heute nicht bemerkt, wie sehr er damals aus der Zeit gefallen war. Die von Franz Müntefering professionell organisierte Wahlkampfzentrale Kampa hat das leicht erledigt.

Sechzehn unserer jungen Jahre hatten wir uns fremdgeschämt für den tapsigen Oger von Oggersheim. Allen Spott hatte er ausgesessen. Die Birne-Witze der Achtzigerjahre, sie waren längst schal geworden und über die Parodien diverser Kabarettisten mochte man sich auch nicht mehr so recht amüsieren. Es hatte ja eh alles keinen Sinn. Wir waren so weit, zu glauben, alles, was nach ihm kommen würde, könne nur besser werden.

Und tatsächlich: Schröder, bei den Jusos sozialisiert, den souveränen Umgang mit Parteigranden, Gewerkschafts- und Konzernbossen aus seiner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident gewohnt, zeigte von Beginn an jene Hemdsärmeligkeit und Weltläufigkeit, die wir so schmerzlich vermisst hatten. Endlich sich im Ausland nicht mehr genieren müssen. Und dann auch noch ein Grüner als Vizekanzler! Ich genoss förmlich die Krämpfe, die eingefleischte Konservative um mich herum bekamen beim bloßen Gedanken daran. Bei aller rückblickend sich offenbarenden Mittelmäßigkeit derer, die damals zur Macht gekommen sind: In jenem Herbst 1998 fühlte es sich an, als hätte endlich jemand in diesem Land die Fenster aufgerissen und den Mief rausgelassen.

Der erste Riss im Parkett kam schnell in Gestalt des von Springer- und Murdoch-Presse vehement herbei geschriebenen Rücktritts von Oskar Lafontaine, des designierten Finanzministers. Auch das hätte eine Warnung sein müssen. Zwar gab es eine dumpfe Ahnung, dass da irgend etwas Einschneidendes passierte, ein Kampf um die Ausrichtung der SPD entschieden wurde. Doch war mir, wie vielen, nicht klar, dass sein Abgang von der politischen Bühne gleichzeitig auch der der alten Sozialdemokratie war. Zu groß war die Euphorie der ersten Zeit nach Kohl.

Jetzt, im Rückblick, offenbart sich auch zunehmend, wie parteiübergreifend verfilzt die Hannoveraner Kamarilla ist und wie wenig man sich dort verstecken muss gegen den SPD-Klüngel der roten Ruhrbarone oder die rechtskonservative CDU-Pöstchenfabrik in Hessen. Der Genosse der Bosse kam von da und konnte es mit allen: Mit VW-Partyhengst Peter Hartz ebenso wie mit Carsten Maschmeyer. Der wäre nur zu gern ein geachtetes Mitglied der besseren Gesellschaft. Aber das leicht strizzimäßige Odium des einstigen Drückerkolonnenkönigs mit dem Pornobalken haftet an ihm wie ein billiges Rasierwasser, da helfen alle seine Millionen nichts. Insider wussten das alles, aber wenn sie gewarnt haben, dann wurden ihre Warnungen abgetan als Miesmacherei.

Apropos Hartz: Mit der Bestellung von Peter Hartz zum Vorsitzenden der nach ihm benannten Kommission zur Entwicklung von Reformen am Arbeitsmarkt wurde zum ersten Mal im großen Stil jener fatale Irrglaube in die Tat umgesetzt, nach dem vermeintlich überparteiliche Praktiker aus dem Management auf jeden Fall bessere Gesetze machen könnten als irgendwelche Experten. Im Outsourcing von Kernaufgaben des Staates wurde auch hier Pionierarbeit geleistet. Arbeit geschaffen haben die Hartz-Reformen eine Menge. Vor allem bei den Sozialgerichten.

Die Schröder-SPD war die erste und wahre Piratenpartei Deutschlands. Sie hat das Land damals gekapert. Sie hat es, nach dem Vorbild Tony Blairs auf einer Welle linksalternativer Aufbruchsstimmung reitend und unter dem Vorwand, sozialdemokratische Politik in das 21. Jahrhundert zu führen, in ein neoliberales, dereguliertes Billiglohnland nach dem Vorbild Margaret Thatchers verwandelt, in dem die Rechte von Arbeitnehmern und Arbeitslosen immer mehr beschnitten wurden.

Der Rest ist bekannt: Profitable Konzerne und Arbeitgeber wurden Hedgefonds und Private-Equity-Gesellschaften zum Fraß vorgeworfen, die gesetzliche Rente wurde weiter geschwächt und den Raffelhüschens dieser Welt die Tür geöffnet. Es wurde privatisiert auf Teufel komm raus, in einem Maße, wie keine konservativ-liberale Regierung dies je hätte wagen können. Einzig die überfällige Reform des Staatsbürgerschaftsrechts und der Schulterschluss mit Frankreich gegen den Irakkrieg des unsäglichen George W. Bush können als bleibende Verdienste bezeichnet werden.

Im Hinblick auf das, was zur Wahl stand, führte 1998 an Schröder sicher kaum ein Weg vorbei. Vier weitere Jahre Kohl wären keine Alternative gewesen. Aber die Begeisterung, die Schröder und Fischer durch die ersten Jahre der Regierung trug, war fehl am Platze. Im Gegenteil: Den rot und grün lackierten Neoliberalen hätte von Beginn an Widerstand entgegen schlagen müssen. Als der Widerstand sich endlich formierte war es zu spät, der Richtungswechsel längst vollzogen.

Auch habe mich kapern lassen damals.

 


Dieser Text erschien ursprünglich auf den Fliegenden Brettern.