Magazin Beitrag

Nach Kopenhagen

Kopenhagen war Markstein einer neuen Phase der Brutalisierung und vielleicht der paradoxe Beginn einer weltweiten Bürgerbewegung

Die Rasanz und die zu erwartenden fatalen Folgen des Klimawandels werden schon lange von keinem ernst zu nehmenden Wissenschaftler, von keiner ernst zu nehmenden Wissenschaftlerin mehr bestritten. Dass nun auch die herrschende Politik dies offiziell anerkennt und zugleich die einzig plausible Konsequenz aus dieser Anerkenntnis – ein bedingungsloses, sofortiges und grundlegendes Umlenken – verweigert, bedeutet nichts weniger als eine neue Qualität der Brutalisierung.

Ist denn nicht hinlänglich bekannt, dass es weit kostspieliger würde, auf die heraufziehende Katastrophe nur zu reagieren, als ihr durch Investitionen in neue Energietechnologien und präventive Anpassungsmaßnahmen so weit als möglich vorzuspringen? Wie dann sollen wir uns erklären, dass selbst das gesegnete Argument der Kosten-Nutzen-Rechnung nicht mehr zu greifen scheint? Nein, es greift weiterhin. Nur worauf wird gerechnet? In welcher Weise wird reagiert?

Niemand ist länger in der Lage, das Offensichtliche zu übersehen. Es gibt keinen Zweifel über die letzte Ziffer einer Rechnung oder die Stelle, an die das letzte Stück eines Puzzles gehört. Was allein noch fehlt, ist das offene Bekenntnis, aber es ist von Tatsachen gänzlich umstellt: »Es ist uns recht, wenn die Anderen, die Schwächeren, an unserem ‚Weiter-So‘ verrecken.«

Konservatismus und Veränderung.

Ich las in einer Zeitung, dass es möglich wäre, die Emissionen »in den Industrieländern bis 2050 gegenüber 1990 um 95 Prozent zu senken«[i], dass dies ebenso »unvermeidlich« sei, »um die Klimakatastrophe zu verhindern«, wie sich dadurch an »unserem Leben (…) nicht viel ändern [würde]«. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 10. 2009) Nur wäre dies wohl kaum erreichbar, hieß es dort, wenn »man die Lebensweise nicht lenkt«, anders lenkt, als dies gegenwärtig der Fall ist. »Verbote sowie strenge Standards und Grenzwerte« wären nötig. Dies aber lehnen »[l]iberal gesinnte Umweltökonomen (…) als zu teuer ab«, wobei sie den »Kostenbegriff« so weit fassen, dass er den »Verzicht« auf eine liebgewonnene Freizügigkeit mitbezeichnet. Wessen Freizügigkeit? Wozu?

Es ist nicht länger möglich, nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass man sich entschieden hat, weiter zu machen wie bisher und die unverschuldet, doch am härtesten betroffenen Weltgegenden der Katastrophe preiszugeben. Die »Kosten« dafür, so schließen wir, sind nicht zu hoch.

Man bereitet sich vor und reagiert mit entsprechenden Investitionen. Das Budget von »Frontex« Türsteher der geschlossenen Gesellschaft Europa wurde innerhalb kürzester Zeit rasant erhöht.[ii] Die Identifikation einer äußeren Bedrohung und die innere Geschlossenheit sind wie immer korrelativ. Alle sollen ohne Wahl unter die begrenzte Schicksalsgemeinschaft gezwungen werden, eingeschworen auf die Verteidigung des kurzfristigen Eigeninteresses, koste es, was es wolle. Die Gewöhnung an die reale Brutalität und die kaum noch verhohlene Drohung gegenüber Dissens gehen, wie immer, Hand in Hand. »Es ist, wie es ist«, lautet der Appell: »Findet euch damit ab, oder findet euch außerhalb«, wie die fast 1000 friedlich Demonstrierenden, die in Kopenhagen »präventiv« in Käfige gesperrt wurden.

Ignoranz ist Macht, aber Ignoranz wird immer schwieriger.

Bisher mag es für die Profiteure einer gestrigen Infrastruktur und eines gestrigen Systems noch zentral gewesen sein, Zweifel an der Realität, am Ausmaß und an den absehbaren Folgen des anthropogenen Klimawandels zu streuen. Bruno Latour hat vor mittlerweile fünf Jahren eindringlich davor gewarnt, dass die dekonstruktivistische Pose des generalisierten Zweifels – »zu betonen, daß das Beweismaterial lückenhaft sei« – geradezu zur konservativen Leitstrategie avanciert ist.[iii] Sicher wird es auch weiterhin zunehmend lächerlich wirkende Figuren geben, die, wie Benny Peiser, Direktor der unlängst gegründeten »Global Warming Policy Foundation« (GWPF) gegenüber einer Berliner Wochenzeitung (Jungle World, 49/2009), mit der Geste freimütiger Offenheit gestehen, dass ihnen das Klima schleierhaft bleibt und sie »die Entwicklung nicht vorhersagen« könnten. Warum also überhaupt präventiv handeln, zumal dies auch »sehr kostspielig«, ja »einfach zu teuer« sei? Die GWPF stehe geradezu dafür, »dass viele Fragen weiterhin offen sind.« Weil Peiser aber (auch wenn er sich mit seinen Kostenerwägungen um ein paar Relevanzstufen vergriffen hat) immerhin weiß, dass in der internationalen Politik »ausschließlich aus wirtschaftlichen und nationalen Interessen« gehandelt wird, hat er dennoch einen Vorschlag: »Die beste Lösung«, sei es, »den Entwicklungsländern zu größerem Wachstum und zu mehr Entwicklung zu verhelfen, damit sie besser mit den Folgen des Klimawandels umgehen können, völlig unabhängig davon, was ihn verursacht und wie er weiter verlaufen wird.«

Borniertheit, die solche Blüten treibt, ist die Borniertheit des (hegelschen) »Herrn«. Wie lange noch wird es möglich sein, zu übertünchen, dass »Wachstum« und die derzeitige »Entwicklung« Mangel und die Fesselung jeder wünschbaren Entwicklung bedeuten, und eben jenem Klimawandel direkt korrelativ sind, über dessen Ursachen hier gerätselt wird? Manch anderen steht die frappierende Verblödung, deren Geisel wir alle gegenwärtig sind, so wir uns nicht selbst in sie ergeben, aus ersichtlichen Gründen klarer vor Augen. So erinnerte der sudanesische Sprecher der G77 Lumumba Di-Aping in Kopenhagen daran, dass die auch in Deutschland als »erträglich« bezeichnete (absolut NICHT erträgliche) Erwärmung um 2 Grad Celsius für Afrika eine Erwärmung um 3,7 Grad bedeuten würde. Auch sie wird in Verlängerung der derzeitigen Entwicklung nicht eingehalten werden können. Eine Erwärmung um 4 Grad Celsius aber würde 128 Millionen Menschen zusätzlich dem Hungerrisiko aussetzen und die Fläche der Malariagebiete bis 2100 verdoppeln, um von drohenden Klimakriegen nicht zu reden. Wenn das Abkommen, das in Kopenhagen präsentiert wurde, das Einverständnis zu einem zukünftigen »Holocaust« bedeutete, dann wären wohl diejenigen, die immernoch brüllen, der Klimawandel sei ein großer »Schwindel«, dessen verbissene Leugner.

Gefährdete Pfründe.

Zu deutlich folgen diese Leute – Wirtschaftslobbyisten durch die Bank – dem Partikularinteresse ihrer eigenen gestrigen Industrien, und auch die Agenten des Staates vertreten die Interessen ihrer nationalen Wirtschaft, deren beliebteste Chiffre heute »Gesellschaft« heißt. Dass sich der deutsche Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) als Vorkämpfer und Opfer von unverdienten Demütigungen, insbesondere durch China, stilisierte, kann weder davon ablenken, dass der Pro-Kopf-Ausstoß an Treibhausgasen in China weit unter dem deutschen liegt, noch davon, dass sich Verantwortung nicht delegieren oder abwälzen lässt, sondern eine je-eigene ist. Nicht wahrgenommene Verantwortung aber wird sichtbar als Schuld; auch wenn moralische Aussagen heute vor allem in Aussicht haben – wir wissen von wem – augenrollend und argumentationsfrei als »Moralismus« abgetan zu werden. Die Verpflichtung gegenüber sich selbst, die China zumindest signalisiert hat, ist eine Empfindung, die man auch Röttgen und manch anderen zuwünscht, die meinen, ihre eigene Verantwortung durch die Verknüpfung mit (natürlich unerfüllten) Bedingungen abwälzen zu können. Verantwortung aber drängt sich heute überall auf.

Im Zeichen allein der kapitalistischen Wirtschaftsweise musste nicht jede und jeder Einzelne die Brutalität direkt konfrontieren, und indirekt nur, so die Prinzipien dieser Wirtschaftsweise nicht unverstanden blieben. Grausamkeiten und Gewaltexzesse wie zahlreich auch immer, konnten vielen noch als kontingent erscheinen. Es war daher möglich, unbeschadet der eigenen sanften Seele, gegen Verelendung, Krankheit und Hunger eben jene Instrumente in Anschlag zu bringen, die diese auch verursachten: Wirtschaftsinvestitionen und die Parade kultureller Errungenschaften. In der Form der ökologisch-sozialen Katastrophe, zu der diese Instrumente sich gegenwärtig auswachsen, ist das Verhältnis von Wachstum und Tod beinahe vermittlungslos verständlich. Die sanfte Seele geht flöten und es kommt nur noch darauf an, sich an die Brutalität zu gewöhnen. Nichts anderes signalisiert uns dieses zynische Zugleich von Zurkenntnisnahme und Beharrlichkeit.

Nachmaßen die Evidenzen erdrückender werden, wird einerseits ein enormes Verdrängungspotenzial zunehmend mobilisiert werden, das verdummende Sich-Ergeben in Sport-Religion und das Umrauscht-Sein durchs Entertainment, dessen große Kunst es ist, uns dadurch bei der Stange zu halten, immer erst im nächsten Moment einen wahren Satz zu sagen.[iv] Andererseits wird die staatliche Repression von Dissens zunehmen.[v]  Denn diese Gleichzeitigkeit des Eingeständnisses eines katastrophischen Verlaufs und der Verweigerung der einzig plausiblen Konsequenz, ist ein legitimatorischer Bankrott.

Wünschen wir uns also eine friedliche Revolution.

100 Tage vor der Klimakonferenz in Kopenhagen verbreitete sich eine Petition, die ein wirksames Abkommen forderte. Aktualisierte man die Seite einige Tage vor Abschluss des Gipfels im Minutentakt, waren jedesmal hunderte neue Unterzeichnende hinzugekommen, schließlich fast 15 Millionen. Wenn die derzeitigen zentralen politischen Entscheidungsträger bei der »big show« in Kopenhagen eines ganz sicher geleistet haben, dann ist es dies: Sie haben ihren politischen Unwillen und ihre Unfähigkeit auf die Bedrohung durch den Klimawandel adäquat zu reagieren, eindrucksvoll und unzweifelhaft unter Beweis gestellt. In diesem Fall ist der Aufschub einer Entscheidung selbst die Entscheidung. Rhetorik und tatsächliches politisches Handeln klaffen weit auseinander. Wer Gegenteiliges noch erwartet, vielleicht nur vage gehofft hatte, ist desillusioniert. Es herrscht also Klarheit. Und so scheint gesellschaftlich nun auf breiterer Basis als zuvor, die Zeit für die Einsicht reif zu sein, dass die Verantwortung nicht länger der internationalen Politik abgetreten werden darf, oder auch nur kann.

Kumi Naidoo, dem neuen Vorsitzenden von »Greenpeace«, schwebt eine Arbeitsteilung von Verhandlungen und »direkte[n] Aktionen« vor, weil diese dafür sorgen würden, dass ihm »die Politiker wesentlich besser zuhören«. (der Freitag, 10. 12. 2009) Selbst Spiegel-Online sieht die Stunde einer streitbaren Welt-Bürgerbewegung gekommen, »die sich nicht nur in artigen Umfrageantworten niederschlägt«, sondern »einen weltweit übertragbaren Lebensstil zum einen vorlebt und sich zugleich den widerläufigen Interessen aggressiver gegenüberstellt als bisher.«

Die Aufrechterhaltung der Gesamtheit seiner eigenen Abläufe und Funktionen ist die Wesensbestimmung eines jeden Systems. Es stellt sich also die Frage, wie eine so umfassende Veränderung, wie sie heute notwendig ist, wie eine alle gesellschaftlichen Bereiche ergreifende und verbindende Rekonfiguration organisiert werden kann. Es stellt sich die Frage nach einem Übergang zwischen Grundverschiedenem und damit zugleich nach dem Grund dieses Übergangs, nach den Kontinuitäten die ihn tragen. Diese Kontinuitäten, die Gleichheit menschlicher Verstandesvermögen und (nicht nur menschlicher) Verwundbarkeit, liegen tief. Dies zu wissen, verringert die Gefahr, zu hoch angesiedelte Kontinuitäten unberührt zu lassen und die notdürftige Anpassung an ihre Verwerfungen[vi], mit den Veränderungen zu verwechseln, die heute erforderlich sind. Worüber keine Frage besteht, ist aber, dass dieser Übergang ein für das sterbende System unverständlicher und traumatischer ist, dass er seinen letzten Verteidigern als ein Walten begegnet.

  


[i] Der Erd- oder Wassereinlagerung von Kohlendioxid-Emissionen mit der CCS-Technik (Carbon Dioxide Capture and Storage), die in diese Zahl miteingegangen ist, mag man jedoch nicht recht trauen. Sie gehört wohl eher in den Bereich der gefährlichen Manageabilityphantasien eines grundsätzlichen Weiter-So.

[ii] Das Budget dieser Organisation betrug 2008 71,2 Mio. Euro gegenüber 42,2 Mio. im Kalenderjahr davor. 2009 wurde es bei 83,25 Mio. angesetzt und hat sich somit innerhalb von zwei Jahren nahezu verdoppelt.

[iii] Bruno Latour: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich-Berlin 2007 (2004), S. 9.

[iv] Darin ist es Eins mit den Herrschaftsideologien: Reizspiel, Ablenkung und endloser Aufschub, um das Offensichtlichste nicht zu sagen. Ein Denken, das sagen will, wird sich gegen sie errichten müssen.

[v] Ein Beispiel hierfür ist der jüngste Kriminalisierungsversuch des Vereins zur Förderung innovativer Wohn- und Lebensformen e.V. Potsdam (kurz Inwole e.V.) durch den Verfassungsschutz. Vgl. http://foerderverein-inwole.de/de/node/563

[vi] Hierher gehören die wahnsinnigen Machbarkeitsphantasien des Geo-Engineering, die den Planeten immernoch für eine Art Waschmaschine zu halten scheinen, an der man nur ein wenig herumzuschrauben braucht, damit sie wieder läuft. Hierhin gehört auch der Irrsinn eines »Ausstiegs aus dem Ausstieg«, den die Atomlobby gerade unter Verweis auf die drohenden Klimaveränderungen durchzusetzen sich anschickt. Sowie all die anderen falschen Lösungen, die unter Beruf auf den Klimawandel einen neuen Akkumulationszyklus in Gang setzen wollen.

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Veranstaltung zu Perspektiven nach dem Gipfel

In Berlin findet am 21.Januar um 19:30 Uhr eine interessant besetzte Diskussionsveranstaltung zu möglichen Perspektiven nach Kopenhagen statt. Ort: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Seminarraum 1, 1. OG, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin Das war der Gipfel! Perspektiven nach dem Scheitern der Weltklimakonferenz von Kopenhagen.

Rosa-Luxemburg-Stiftung: Das war der Gipfel! Perspektiven nach dem Scheitern der Weltklimakonferenz von Kopenhagen. Reihe «Politik Aktuell»